Sekte

Aus kulturkritik

"Wohl ist dem Religiösen auch Gemeinschaft, gemeinschaftliche Erbauung Bedürfnis, aber das Bedürfnis des andern ist an sich selbst noch immer etwas höchst Untergeordnetes. Das Seelenheil ist die Grundidee, die Hauptsache des Christentums, aber dieses Heil liegt nur in Gott, nur in der Konzentration auf ihn. Die Tätigkeit für andere ist eine geforderte, ist Bedingung des Heils, aber der Grund des Heils ist Gott, die unmittelbare Beziehung auf Gott. Und selbst die Tätigkeit für andere hat nur eine religiöse Bedeutung, hat nur die Beziehung auf Gott zum Grund und Zweck ist im Wesen nur eine Tätigkeit für Gott - Verherrlichung seines Namens, Ausbreitung seines Ruhmes. (Feuerbach, Wesen des Christentums)

Eine Sekte betreibt ein ästhetisches Verhältnis durch die Vereinigung von Sophismus und Religion in der Grundlegung eines geschlossenen Lebensraums, worin zwischenmenschliche Beziehungen zum Träger ihres Glaubens werden. Praktisch begründet sie sich mit dem Wahrheitsanspruch einer Heilsvorstellung, welche eine Selbstüberhebung bewirkt, die nur durch Selbstunterwerfung erfüllt werden kann und zur Selbstveredelung dient. Dies ermöglicht ein Glaube, der auf eine Erlösung durch Einschwörung auf eine Gemeischaft (siehe Verschwörung), auf eine GruppenIdentität von Menschen, zielt. Für diese ist nötig, dass sie sich aus ihrer Ausschließlichkeit begründet, also negativ darauf gründet, dass ihr keine wirkliche Identität möglich ist, weil Fremdidentität herrscht, die sie ausschließt. Die Abgrenzung selbst wird in dieser Negation dadurch praktiziert, dass die Befürchtung, Gruppenmitglieder könnten dadurch verloren gehen, dass sie von der übrigen Welt wieder "eingefangen" werden, zur Gruppengewalt gegen die einzelnen treibt, durch die sie ihre Isolation fortspinnt.

Solche Gruppenidentität verlangt die Entleerung von allen weltlichen Problemen und setzt dies auch für ihr Gelingen vorraus. Das geschieht meist durch psychologische Techniken, die wirkliche Probleme von Menschen durch abstrakte Selbsterfahrungen auflösen (z.B. Hyperventilation, Isolation, Karrierismus innerhalb der Sekte, Liebeskulte, Dämonie, Esoterik usw.). Damit wird das Selbstgefühl in der Masse zur Selbstbestimmung als Massengefühl. Wie jedes Massengefühl lebt und belebt es eine allgemeine und abstrakte Zwischenmenschlichkeit, in der sich nur eine Scheinwelt allgemein bestimmend durchsetzen und erhalten kann. In der Vermassung der Gefühle ist die Glaubensidentität der Sekte maßgeblich und erzeugt seelische Beziehungen und Identitäten, welche sich von aller anderen Welt entfernen und sich gegen sie stellen und erhalten, die Seele der Mitglieder selbst - wiewohl höchst privater Geist - unmittelbar zur Gemeinschaftsseele wird (siehe auch Volksseele). In der Sektiererei der Sektenmitglieder wird dies als Verhalten kenntlich, das sich in seinen Grenzen nicht wirklich bestimmen kann und daher diese sowohl nach innen wie nach außen ausufert. Von daher ist in Sekten ein persönliches Regulativ durch eine Führerpersönlichkeit unabdingbar, die sich nicht formal begründet, sondern aus seiner besonderen Sensitivität für das gemein Sinnliche, das sie zu einem Gemeinsinn transformiert und als Mittel ihrer Psychokratie benutzt.

Das Selbsterleben der Menschen in einer Sekte kann derart tief gehen, dass sie ohne diese nicht mehr lebensfähig sind. Ihre Identität lässt es dann nicht mehr zu, weil ihr Gedächtnis keine Inhalte zur Verarbeitung eines anderen Lebens mehr kennt, weil also diese in der Sekteneinführung und im Sektenleben zerstört wurden. Die derart hörig gewordenen Menschen können vor allem nur noch durch Missionierung für die Sekte eine eigene Beziehung zu sich und anderen finden. Da Sekte letztlich nur aus Glaubensmasse besteht und von dieser Masse in Bewegung als Massenbewegung zehrt, wird sich die Hörigkeit der Menschen eben auch nur in der Gewinnung neuer Sektenmitglieder verwirklichen. Die Missionierungsleistung ist daher die fast einzige wirkliche Tugend und Tätigkeit der Sekte und die Form wirklicher Selbstbestätigung, wie auch Vollzug der Getrenntheit und Ausschließlichkeit des Lebens in der Sekte.

Die Ausschließlichkeit einer Sektengemeinschaft ist in doppeltem Sinn gewaltsam. Von ihrer Entstehung her ist sie die Aufhebung unbegriffener Einsamkeit, also Trost gegenüber der Isolation, welche außergewöhnliche fantastische Tiefen und Untiefen des Selbsterlebens im Fanatismus des Sektierens vereint. Von daher repräsentiert die Sekte die absolute Negation der Gesellschaft, in welcher das Fantasierte isoliert und in seiner Isolation belassen bleibt. Zum anderen fürchtet sie die Auflösung der Sektengemeinschaft, wenn das Fanatische unter den Sektenmitgliedern abgrenzend auftritt oder in seinem Innenleben nach außen dringt, also die Gemeinschaft im Verlassen zugleich verraten wird. Der Verrat, also das Anderssein innerhalb der Sekte, ist das objektive Bindeglied, welches die Menschen darin in ihrer verlassenen Subjektivität nötig haben. Im Verrat lebt die Notwendigkeit, die Sekte zu verlassen und vollzieht sich zugleich die Bindung an sie als Lebensmittel. Das macht die Lebensprothese für den Suchtkreislauf darin aus. Der Kampf gegen VerräterInnen ist daher unerbittlich und geht oft bis hin zur realen oder psychischen Zerstörung ihrer Persönlichkeit.