Volksseele
"Die Tradition der toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen. Die soziale Revolution (…) kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerung um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution (…) muss die Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen." (MEW Bd.8, S. 115).
Die sogenannte Volksseele ist zunächst die Ideologie einer völkischen Kulturalisierung seelischer Phänomene, die aus einer Seelengemeinschaft des Volks verstanden werden, denen eine "gute Volksseele" entgegen zu stellen sei, wie sie dem gemeinen äthetischen Willen einer gemeinsinnigen Selbstbehauptung in der Gesinnung von völkischen sophistischer Fiktionen entspricht (siehe auch Anthroposophie).
Deren Abstraktionskraft ist die Wirkung einer antäußerten Beziehung. Sie entsteht im Trieb ihres Unfriedens in einer unbefriedigten Beziehung, die sich sinnlich verselbständigt hat, die also gewalttätig wird, wo und weil sie unsinnig geworden, wo sie substanziell außer sich geraten ist und im Trieb ihrer wesentliche Lebensäußerung entstellt und in ihrer Entstellung entstellt sit, die sie verrückt macht.
Damit will sich das in vielen autoritären Charakteren verallgemeinerte Selbstgefühl einer Massenkultur als Gemeinwesen einer Kultur behaupten. In jeder Gemeinde gibt es so etwas wie ein Gemeingefühl, das für alle im Zusammensein beabsichtigt ist. Im harmlosen Geschunkel der ansonsten vereinzelten Seelen steckt meist nichts anderes als die Sehnsucht nach einem wirklichen Gemeinwesen, nach einer Gesellschaft, in welcher jeder Mensch auch wirklich vorkommt. Erst im Glauben an ein gemeinschaftliches Subjekt wird die Sehnsucht süchtig und verpflichtet sich per Gesinnung zur Erlösung von dieser Welt, ohne etwas an ihr ändern zu wollen. Es ermöglicht vor allem eins: Die Erhebung des isolierten Selbst zu einer gemeinen Selbstbehauptung der Gemeinschaft, die Vergemeinschaftung seiner Selbst zu einem Gemeinschaftswesen, der gemeinen Gesinnung eines Volkskörpers.
Hierdurch wird die in ihrer Lebensburg verbunkerte Seele zu einem mächtigen Gesellschaftswesen, das durch die Empfindungen seiner Massenpsyche zur Grundstimmung einer Gefühlsmasse wird. Dadurch kann sie stärker erscheinen als jene Welt, die hierin verschwunden ist (siehe auch heile Welt) und ob der gemeinen Masse von Nähe und Anwesenheiten bedeutungslos wird, weil sie sich wie ein ästhetischer Wille in der Gemeinschaft, wie eine gemeine Seele ihrer Ästhetik verwirklicht (siehe auch Patriotismus). Der bisher privat verbunkerte Lebensraum (siehe auch Familie) verliert sich in dem Maße, wie dieses Wesen erstarkt, zu einer eigenen Gemeinschaftswelt wird, die schließlich gegen alle andere Welten wie ein Gemeinschaftsbunker taugt. Die Abstumpfung gegen sie wird zur Schafsnatur der Schutzbefohlenen; der Schutz zur Eigenschaft des Gemeinschaftssubjekts, sei dieses der gute Hirte der Christenmenschen oder ein Guru der Selbstgefühle oder ein Weltmeister wie George W. Bush oder einfach auch nur ein Superstar wie Daniel Kübelböck (siehe Fan-Kult). Alle Gemeinschaftssubjekte schützen nicht, weil sie hierzu Möglichkeiten und Mittel hätten. Sie schützen auch nicht wirklich vor Feinden. Sie bewahren lediglich vor Selbstverlust, indem sie Gleichnisse setzen - und sei es auch nur die Kultivierung des eigenen Unvermögens. Die verlorene Seele findet in solchem Subjekt ihre Allgemeinheit an Selbstgefühlen mit einem großen oder kleinen Volk: Volksseele. Es ist die Hochform, wohin sich die zwischenmenschlichen Beziehungen treiben: Allgemeines subjektiv sein durch ein Gemeinschaftssubjekt (siehe Logik der Kultur Teil 3).
Doch dieses lebt nicht wirklich. Die Wirklichkeit, in der es lebt ist profan im Verhältnis zu seiner Wirkung, die es hat. Sie besteht aus dem Leben nicht eines, sondern vieler Menschen in einer Kultur, in welcher jeder Sinn für sich aufgehoben ist, alles sinnlos erscheint, was nicht Sinn für zwischenmenschliches Erleben stiftet. Die Identitätsfindung im Zwischenmenschlichen selbst macht jeden zu einem Moment dieses Subjekts, indem er sich selbst als dieses erlebt, und macht es so erst zu einem Ganzen, an dem er teilhat und zugleich ganz Mensch ist, zum wirklichen Zwischenmenschen, also einem Menschen, der zwischen allem ist und alles sein können muss, um zwischen sich und den anderen sich zu vermitteln.
Er bliebe lediglich ein zweifelnder Geist, könnte er nicht auch wirklich in solcher zwiespältigen Gemeinschaft eine Seele finden, die wirkliche Gemeinschaft mit anderen zu bilden vermöchte. Solche Gemeinschaftsseele ergibt sich vorwiegend praktisch durch allgemein mögliche praktische oder theoretische Tätigkeiten, wodurch Gemeinschaften leben können (z.B. Musik, Gartenbau, Sport, Politik usw.). Diese Tätigkeiten mag es auch ohne seelische Beteiligung geben; hier werden sie aber erst wirklich zum Mittel einer allgemeinen Selbstverwirklichung (siehe Massenpsyche).
Wesentlich für solche Selbstverwirklichung in einer volksseligen Gemeinschaft ist die Aufgehobenheit eigener Identität. Die einzelnen Menschen schwimmen in getragenen Gefühlen, verzichten von da her auf eigene Empfindungen, die darin nicht aufgehen können. Aber gemeinschaftliche Empfindungen gibt es nicht ohne gemeinschaftliche Vergegenständlichung. So müsssen allerlei Tätigkeiten und Gegenstände in das seelische Gemeinschaftswesen eingebracht und gemeinschaftlich genutzt werden - nicht weil es gesellschaftliche Gegenstände oder Tätigkeiten wären, sondern weil es vergemeinschaftete Privatheiten sind, die sich ob ihrer gemeinschaftlichen Empfindung gesellschaftlich vorkommen können: Was darin aus dem privaten Leben eingebracht wird (z.B. als Fähigkeiten wie Musizieren, Wissen, Fertigkeiten), wird zu einem gemeinschaftlichen Gegenstand der Empfindung und die Menschen darin zu einer Empfindungsgemeinschaft. Gesellschaft wird als Gemeinschaft wahrgemacht, indem sich die Menschen tatsächlich gesellschaftlich wahrhaben, also Wahrheit darin haben, dass alles, was die Menschen natürlicherweise gesellschaftlich sein lässt, ihnen jetzt auch als Natur der Gemeinschaft gelten kann. Erst durch diese praktische Gemeinschaft vergegenständlicht sich eine gemeinschaftliche Seele, weil sie sich nur als praktische Verkörperung der Gemeinschaft bestätigen und bewähren kann. Vollständig und absolut ist eine Volksseele also erst, wenn sie alle Körperlichkeit einer Gemeinschaft erfüllt und ausfüllt.
Die bisher nur passiv entwickelten Bestimmungen würden für ein selbstgenügsames Gemeinwesen ausreichen, wäre da nicht die andere Welt: Das Negativ der so erfolgreich gewordenen Vertrautheiten des Volkes. Gegen sie entzündet die Volksseele erst ihr wirkliches Interesse, wenn sie von dieser Welt bedrängt wird (siehe z.B. Krise). Dazu kann in Bayern schon die Erhöhung der Bierpreise genügen oder anderswo die Angst vor Chaos oder Terror: Die Volksseele wird als "gesunder Menschenverstand" aktiv in der Appelation an das gemeine, sprich: völkische Lebensinteresse, wie es als körperliche Gewohnheit gegeben ist. Volksseele ist die sich gemeinschaftlich äußernde Absicht eines beseelten Volkskörpers. Naive Formen solcher Beseelungen finden sich bei jeder Volkskundgebung oder bei den Fußballfans auf dem Sportplatz, die auf den Tribünenplätzen sowieso besser wissen müssen, was richtig zu laufen hat. Tatsächlich hat die Volksseele aber ihre Funktion erst, wo sie sich objektiv zwingend geben kann, wo sie also anerkannte Objektivität des "richtigen Lebens" in der bürgerlichen Kultur ist: als Sitte einer Volksgemeinschaft, die sich als Gesinnung ausbildet. Die Fähigkeit, solche Sitte allgemein verbindlich zu machen und durchzusetzen, verlangt das ganze Verhältnis der Kultur und auch deren Ideologen, die in theoretischer Form den kultivierten Übermenschen in jeder Hinsicht ausmalen und darin jene Identität zusammenbasteln, die sie dem Volk vor die Nase halten oder aufs Brot schmieren wollen. Der Übermensch ist die höchste Fremdidentität, wohin es die Identitätsmaschinerie der bürgerlichen Kultur bringen kann - nicht, weil er die Abartigkeit der Ideologie als artige Formulierung der Art - und darin als absolute Formulierung der Abart - bringt, sondern weil er praktisch für die Kultur als ihre äußerste Notdurft (im vielfältigen Sinne des Wortes) fällig ist: Die Verkörperte Aufhebung jeglicher Zwischenmenschlichkeit als notwendige Übermenschlichkeit, als äußerste Verbindlichkeit der Selbstentfremdung.
Dem vorausgesetzt ist die Aufhebung der individuellen Sinnlichkeit und Seeligkeit von Empfindungen und Gefühlen. Der Entstehungsprozess der Volksseele beginnt daher im Brauchtum, worin Gefühle als objektive Form des Geschicks und der Geschicklichkeit zur Schicklichkeit aufgehoben sind. Das Brauchtum selbst muss keine Aufhebung betreiben; es wird zur Aufhebung genutzt, wo Identitätslosigkeit herrscht, wo also herrschende Gefühle selbst allgemeines Verlangen nach Sinn, herrschende Bedürftigkeit nach Kultur darstellen.
Es sind nicht mehr nur die Amerikaner und Amerikanerinnen, die auf dem Münchener Oktoberfest mit teuren Lederhosen und Dirndln rumlaufen. Inzwischen sind es auch wieder die Münchner selbst: Die Münchner Oberschicht, die Schickeria. Und selbstverständlich und vor allem auch die vielen Preußen und Italiener ... und, was für die Bayern am Schlimmsten ist: Die Österreicher.
Die Schicklichkeit ist das Schicksal der bürgerlichen Kultur; darin geht sie auf und unter zugleich, sortiert Menschen zu Unmenschen und betreibt unmenschliche Natur. Gewohntes wird mächtig und Ungewohntes verbannt. Die Sortierung lässt leben oder untergehen, erzeugt lebende Sorten und tote, Art und Unart. Das machen nicht nur populistische Politiker zur Wendung der Wählermeinungen in Hinblick auf die Bedürfnisse nach völkischer Körperlichkeit; es machen vor allem die Menschen selbst. Der Übermensch gewinnt sich aus dem Siechtum, aus dem Gefühl eines allgemeinen Lebensschicksals, das unverdient ist: Ein ganz großes Scheitern, das nur durch einen ganz großen Gegner erklärlich ist: Das sind die niederträchtige Machenschaften und Interessen, die - real oder fiktiv - Leben, Volk und Land beherrschen (siehe auch Rassismus). Es ist das Gewerke eines realen Minderwertigkeitsgefühls, das zum Kult wird - nicht weil es seelisch ist, sondern weil es die Seele verlassen muss, weil es Realität erzwingen muss, um seine Leidensform an einer Stelle zu verlassen, wo Leiden nur noch als abstraktes Walten, also gewalttätig werden kann. Der Kult mit der Volksseele ist keine Religion, kein Glaube; er ist die vollständige Umkehr der Realität zu einer Realisierung des seelisch notwendigen Übermenschen mit allen Mitteln, die verfügbar sind (siehe Nationalsozialismus).