Sucht
"Es ist ein Brauch von alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör!" (Wilhelm Busch, Die fromme Helene, 16. Kapitel)
Sucht die die höchste und intensivste Form einer Einsamkeit, die vollkommenste Abhängigkeit von Stimmungen, die nurmehr durch bestimmte Stoffe oder Erlebnisse der Selbstwahrnehmung vermittelt und vermittelbar sind. Sucht ist von da her die absolut isolierte Hörigkeit der Selbstgefühle, die im vollkommen verselbständigten Konsum entsteht (siehe hierzu auch Tittytainment). Sie beginnt oft mit der Vergemeinschaftung einer Verzweiflung und tritt ins wirkliche Leben über die Panik gegen einen total gewordenen Selbstverlust. Sie sucht das Auseinanderfallen der Wahrnehmung zwischen Empfindungen und Gefühlen aufzuheben, indem ein Mittel der Wahrnehmung, ein entsprechendes Suchtmittel hergenommen wird, um die Empfindungen an den damit erzeugten Selbstgefühlen auszurichten, derer die Wahrnehmung bedarf, um sich in ihrer Getrenntheit wahrzumachen, im Wahrnehmungszusatnd einer dritten Art das als eigene Wahrheit zu erleben, was sie durch sich und für sich nicht mehr wahrmachen und daher auch nicht wahrhaben kann.
Sucht ist von da her eine entäußerte Ergänzung, die Totalisierung einer verzweifelten Selbstbeziehung im Ausschluss der zwischenmenschlichen Beziehungen, wie sie in zwischenmenschlichen Verhältnissen, in der erzieherischen Beziehung einer symbiotischer Selbstbehauptung begründet waren, und die durch das Suchtmittel ausgeschlossen wurde und von daher ausschließlich in ihrer inneren Negation fortbesteht. Darin entstand der Trieb einer Selbstentfremdung, der sich gegen ihre Existenz im Ganzen richtet. sich In der Absicht zu einer Aufhebung ihrer Wesensnot forttreibt in einer Suche nach Erfüllung, wo nichts ist. Von daher ist sie ein zu einer schlechten Negation gewordenes Bedürfnis nach Fülle. Sucht ist Erfüllsucht, das unendliche Verlangen einer schlechten Unendlichkeit, dass erfüllen soll, was nicht sein kann, was nicht wirklich Gegenstand seines Bedürfnisses ist, weil das Bedürfnis sich selbst vergegenständlicht, nach der Körperform seiner Selbstgefühle sucht, und deshalb nur Gegenstände finden kann, für die es keine Empfindung hat. Von daher entwickelt sich eine Spirale, ein "Teufelskreis" in der Produktion von Selbstgefühlen, die nur ihre Leere, ihre Nichtigkeit fühlen können, weil sie nicht finden können, was sie wirklich sättigt, was sie in ihrer Empfindung auch verarbeiten können würden.
Sie entsteht aus der Verzweiflung an einer zwischenmenschlich erwirkten Selbstauflösung, wie sie sich durch die Egozentrik bürgerlicher Selbstwahrnehmung in ihren selbstbezüglichen Verhältnisses ergibt. Der Kulturkonsum verselbständigt sich darin gegen jegliche Kulturarbeit und nichtet somit seine Substanz, reduziert sich selbst zu einem autistischen Nichts, einem Loch der Wahrnehmung, die unentwegt sich ihrer Depression entledigen muss. Der Gefühlszusammenhang autistischer Beziehungen ist ein Zusammenhang unbezweifelter Empfindungen, ein bloßes Erdulden und Fühlen in einer unwirklichen, aber in Wirklichkeit mächtigen Beziehung. Die Selbstauflösung resultiert als Reaktion auf die Dichte solcher Beziehungen, die sich in dem Maß als innere Gewalt jenseits der wirklichen zwischenmenschlichen Verhältnisse auftürmt, wie sie die Wahrnehmung bestimmt. Oft entsteht sie noch inmitten der erzieherischen Beziehung, oft aber auch nach dem Scheitern solcher Beziehungen, die depressive Selbstzerstörungsprozesse hinterlassen haben. Von daher ist Sucht die Überwindung von Depression, die den Zirkel ihrer Selbstauflösung mit geistigem und/oder materiellem Stoff (z.B. Computerspiele, Drogen, Sex) befriedet und zunächst eine "neue Gefühlswelt" eröffnet, die allerdings den Gefühlszirkel forttreibt und oft auch in einem nicht mehr unmittelbar einsichtigen Gefühlszirkus veranstaltet.
Das Prinzip der Sucht ist, die eigene Gefühlswelt in ihrer Selbstaushöhlung zu überwinden, sie dadurch auszuhebeln, dass der Selbstwahrnehmung Empfindungen ermöglicht werden, in welchen einzelne eigene Gefühle als Empfindungen wieder menschlich eingebunden erscheinen können. Da aber diese Einbindung auf einer stofflichen und/oder geistigen Prothese beruht, welche die Empfindungen aus ihrer lebendigen Wirklichkeit isoliert und vereinseitigt, kristallisieren diese sich zu einem Selbstgefühl, dessen Selbständigkeit eine unnahbare Gefühlsidentität erlangt. Von da her ist Sucht ein seelisches Unterfangen, welches verzweifelte zwischenmenschliche Beziehungen durch isolierte Selbstwahrnehmung abfängt und aufhebt.
Hierdurch aber bewahrt Sucht vor allem die Verzweiflung in einer pervertierten Form, als eine wiedergefundene Identität im Gefühlsrausch von Bezogenheiten, die wie eine glückliche Wiedererlangung einer verlorenen Bindung erscheinen können. Diese Bindung erfolgt allerdings nur durch einen Stoff, welcher den Gefühlszusammenhang ausblendet, einem also Stoff, durch den er negiert wird. Der betroffene Mensch versetzt sich hiermit in einen Zustand, worin ihm zwar einzelne Empfindungen als vereinzelte, isolierte Empfindungen gegenwärtig werden, welche aber zugleich durch sein Gefühl ansonsten beherrscht blieben.
Aber diese Mittel überwinden nicht die wirklich negative Beziehungen jener Gefühle, sondern verstärken sie "unter der Haut". Sie bleiben den Empfindungen völlig äußerlich und sind also nur quantitative Bestimmung für sie, auch wenn sie unterschiedliche chemische Wirkungen auf die Rezeptoren haben und unterschiedliche Eigenschaften des Empfindens hervorbringen.
Sucht ist die Umkehrung eines bezwungenen Lebens zu einem Trieb, materielle Wirklichkeit durch die Wirkung entrückender Stoffe zu beherrschen. Wirkliche Gefühle sind hierbei der Antrieb einer Negation, welche dadurch unendlich ist, dass sie unmittelbar als notwendiges Verlangen nach Entrückung auftreten, dass also das Gefühl selbst in der Form einer Selbstwahrnehmung negiert wird, die absolut unbestimmt erscheint und bloßes Anderssein der Form, Formbestimmung für sich ist. Zwangsläufig beinhaltet dies eine substanzielle Selbstbeherrschung, die durch einen Stoff erreicht wird, der außerhalb des Menschen produziert wird oder durch ein Verhalten oder Ereignis erzeugt wird (siehe auch Ereignisproduktion), das eine solche Stoffproduktion im Menschen auslöst (z.B. Abtanzen, Jogging, Sex, Massenveranstaltungen). Die Verrücktheit dieser Selbstbeherrschung ist, dass sie als Herrschaft des Stoffes über den Menschen auftritt, also nicht als Verlangen nach einer Scheinwelt, sondern als stoffliche Negation des Scheinhaften, als eigenständige substanzielle Realität. Damit hat Sucht den Charakter einer Lebensüberwindung, die eine Vernichtungslogik involviert: Je scheinhafter die Welt, desto heftiger die Selbstbeherrschung bis hin zur Selbstvernichtung.
Sucht ist also zunächst ein unendlich bestimmtes Verlangen nach Stoffen, worüber ein Mensch mit sich zu einer zeitweiligen Ruhe kommt und ohne die er unter "Entzug" leidet, das ist meist ein Zustand von Unruhe, Spannung, hormonelle und Stoffwechselstörungen bis hin zu Delirien und Wahnbildungen. Der Stoff erscheint als einziges Mittel einer körperlichen Identität, welche die Voraussetzung dafür ist, dass seelische Prozesse überhaupt wahrnehmbar sind - allerdings meist auch nur in isolierten Selbstgefühlen und ohne wirkliche Empfindungen. Die Entwicklung der Sucht beruht auf einer Anpassung des Körpers an diese Stoffe, so dass der Bedarf zur selben Wirkung mehr oder weniger kontinuierlich zunimmt.
Allgemein werden durch Suchtmittel Selbstgefühle mit Selbstempfindungen ersetzt, die jene dadurch möglich machen, dass sie die Wahrnehmung von ihren Gefühlen trennt, bzw. den Körper auf ein hierfür nötiges Tempo (Speed) bringt. So werden ihre organischen Tätigkeiten (z.B. Schmecken, Hören, Denken, Phantasieren, Riechen, Geschlecht usw.) zu Objekten von Gefühlen, die ihre Aufhebung nötig haben und dadurch betreiben, dass sie in diesen Tätigkeiten ihre Mittel finden für ein Lebensgefühl, das sich in Selbstempfindungen zu gewinnen sucht.
Sucht ist die Notwendigkeit eines Sinns, der sich seinem Leben entzogen und verweigert hat, nicht mehr passiv, depressiv, sondern aktiv als Sinn für sich, als Überlebensnotwendigkeit gegen ein vollkommen überhobenes Leben. Aber dadurch, dass das hiergegen gesetzte Lebensgefühl sich nur durch äußere Mittel und also auch nur durch äußere Vermittlung bestimmt, kann es auch nur den Gefühlsgewalten herrschender Lebenszusammenhänge unterworfen bleiben.
So erliegt der süchtige Mensch nicht nur den sozialen Gewalten, die ihn aufgelöst hatten, sondern zugleich auch seiner Flucht vor ihnen. Das macht die Einsicht in den eigenen Lebenszusammenhang innerhalb des Suchtverhaltens, also bei fortwährender Einverleibung der Suchtmittel, praktisch unmöglich. Solange diese Mittel unvermindert eingenommen werden, bestimmen diese den Ausschluss des Lebens, dessen Sinn objolet geworden ist. Von daher wird der/die Betroffene durch seine Überlebensmittel selbst unendlich nichtig bestimmt, kann also auch nur durch unendliche, also nicht enden wollende Zufuhr dieser Mittel sich erhalten. Sucht ist die sich ins Unendliche steigernde Heraussetzung eines negierten Selbstgefühls im Prozess seiner Negation: Selbstzerstörung.
Damit ist sie auch die sublimste und höchste Affirmation des Lebens, dem sich der süchtige Mensch zu verweigern sucht. Er wird von dem abhängig, was er hasst und was ihn vernichtet. In der Suche nach einem Überleben in einem Leben, das er nicht haben will, betreibt er objektiv die Vollstreckung seiner Vernichtung durch die Mittel, mit denen er sich ihm entzieht.
Sucht bestätigt und bestärkt sich in der Isolation von anderen Menschen, die durch solche Menschen ersetzt werden, die zugleich sich in ihrer bloß süchtigen Anwesenheit suchen (z.B. als Szene), um das selbstvernichtende Verhältnis zu sich in reiner, also abstrakter Selbstvergegenwärtigung aufzuheben. Sie ist also eine Selbstrettung, deren fatale Finalität meist mehr oder weniger bewusst in kauf genommen wird: Die Auflösung einer Identitätsangst, welche Depression enthält, und im Suchtzustand bezwungen ist. Es ist die Negation der Gewalt gegen das eigenen Leben, die sie vollzieht, und äußert sich auch in Gewalt (z.B. Hass, Amok). Weil solche Angst keinen Sinn findet, an dem sie Leben entwickeln kann, wird sie zu ohnmächtiger Lebensangst, zu einer Angst der Lebensäußerung selbst (z.B. in der Form von Panik, Angst, Depression auslösen), Angst, eigenes Leben zu äußern (siehe Zwang). Die Kontrolle über sich (Selbstkontrolle) wird selbst zur Lebensbehinderung, weil sie die Zerstörung eigener Gefühle forttreibt. Das Suchtmittel ist eine Prothese für eine Identität, welche die Identitätsangst aufhebt. Sie ist die Flucht vor ihr in eine Identität, in welcher die Sinne sich nach dem Identitätsinteresse richten. Als Substanz der Erkenntnis wirken die Suchtsstoffe betörend und zerstörend zugleich. Durch Suchtmittel werden Gefühle hergestellt, welche Empfindungen im Jenseits zerstörter Gefühle möglich machen.
Die Auflösung einer Sucht kann daher nur die Auflösung der in ihr zirkulierenden Depression sein, die Herausarbeitung des zwischenmenschlichen Zusammenhangs, der sich selbst zerstört hatte. Das verlangt allerdings einen enormen Einsatz der darauf bezogenen Menschen, vor allem ein hohes soziales Engagement und das Ertragen eines beständig bedrohten Sinns während der Suchtbekämpfung.
Die Frage, ob die Sucht durch fortwährenden Entzug abwendbar ist, hängt wesentlich davon ab, wieweit die Formen der Identitätsangst durchlebt und auf sinnvolle Lebensereignisse und Beziehungen sich wenden können. Sucht verliert sich und ihre Notwendigkeit, wo Beziehungen sich ergeben können, in denen das Suchtgefühl äußerlich ist und Empfindungen möglich sind, welche Wirklichkeit vermitteln, Wirkung haben, wenn also Wirkung und Gewalt des Selbstbetrugs, den Sucht veranstaltet, ertragen und zur Selbsterkenntnis ausgetragen werden können.