Selbsterkenntnis

Aus kulturkritik

„Sich selbst zu kennen, will heißen, sein eigenes Sein zu leben, will heißen Herr seiner Selbst zu sein, sich von den anderen abzuheben, aus dem Chaos auszubrechen, ein Element der Ordnung zu sein, aber der eigenen Ordnung und der eigenen, einem Ideal verpflichteten Disziplin. Und das kann man nicht erreichen, wenn man nicht auch die anderen kennt, ihre Geschichte, die Anstrengungen, die sie unternommen haben, um das zu werden, was sie sind, die Gesellschaftsformation zu schaffen, die sie begründet haben, und die wir durch die unsere ersetzen wollen.“ (Antonio Gramsci, in Grido del popolo vom 29. Januar 1916)

"Die Selbsterkenntnis ist die Erkenntnis des Menschen im Menschen, das Verhältnis, worin sich die Menschen selbst zum Gegenstand haben. Es ist der Selbstgenuß des Menschen, die Liebe eines Menschen als Menschenliebe, die nichts höher setzt als den Menschen für den Menschen." (Karl Marx, 1845b, MEW 2, S. 22).

Selbsterkenntnis ist die Erkenntnis, seiner selbst in den Lebensverhältnissen der Menschen, Subjektivität ihrer Wirklichkeit, die sinnliche Gewissheit ihrer Kultur. Was die Menschen darin für sich wahrhaben, finden sie in den Empfindungen ihrer Wahrnehmung, wie sie sich darin anfühlen, Gefühle heraus bilden. In abstrakt bestimmten Verhältnissen sondern sich diese aber als Selbstgefühl ab zu einem Gefühl abstrakter Selbstbeziehung, das die Menschen zwischen ihren Empfindungen und Gefühlen entzweit und sie sich hiergegen behaupten müssen. In symbiotischen Verhältnissen ihrer Selbstbehauptung (siehe auch symbiotische Selbstbehauptung) verlieren sie allerdings den Sinn für sich und entäußern von daher die Gewissheit ihrer Erkenntnis, ihre Liebe.

Selbsterkenntnis hat daher ihre Achtung als Selbstachtung nötig, weil sie in Selbstwahrnehmungen und Selbstwertgefühlen untergehen würde, weil sie ohnedies ihre Selbstentfremdung zu leiden hätte, sich im Menschsein verlieren müsste (siehe auch Selbstverlust). Sie ist daher immer zugleich menschliche Erkenntnis überhaupt, da sich Menschen nur erkennen in anderen Menschen, in kritischer Beziehung zum menschlichen Leben. Sie ist eine Erkenntnis in der Reflexion seiner als Mensch unter Menschen und von daher Grundlage aller Erkenntnis (siehe auch Erkenntnistheorie), die Selbsterkenntnis eigener Gegenständlichkeit.

"Der erste Gegenstand des Menschen - der Mensch - ist Natur, Sinnlichkeit, und die besondern menschlichen Wesenskräfte, wie sie nur in natürlichen Gegenständen ihre gegenständliche Verwirklichung, können nur in der Wissenschaft des Naturwesens überhaupt ihre Selbsterkenntnis finden. Das Element des Denkens selbst, das Element der Lebensäußerung, des Gedankens, die Sprache ist sinnlicher Natur." (MEW 40, S. 544)

Im Gegensatz hierzu steht Selbstbehauptung als Bestimmung eigener Identität durch ein identitäre Behauptung (siehe identitäres Denken), die sich abstrakt über alles zu stellen sucht, jeden Zweifel durch sich schon abstrakt allgemein aufgelöst hat. Selbsterkenntnis ist hiergegen die wahre Aufhebung von Selbstzweifel, zunächst also die Erkenntnis der Bestimmtheit seiner selbst, wie sie sich in den zwischenmenschlichen Verhältnissen trägt, fortträgt und erträgt. Dies eröffnet zugleich Einsicht in die Notwendigkeit der Selbsterkenntnis, die Erkenntnis der wirklichen Geschichte der eigenen Kultur, z.B. als Geschichte einer Liebe unter der Bedingung privater Lebensräume. Hierbei entsteht das Wissen einer Lebensnot, der Bedingtheit eigener Lebensäußerung. Es vollzieht sich darin die Heraussetzung der Bestimmung als äußere Bestimmtheit, welche den Schmerz der Erkenntnis erklärt und im dem hieraus entstehenden Bewusstsein Selbstachtung im Wissen um ihre Bedingtheit findet. Selbsterkenntnis wird so zur Erkenntnis der Entfremdung der Verhältnisse, worin sich Menschen aufeinander beziehen, und wird damit zur Erkenntnis der Notwendigkeit, diese Verhältnisse, worin der Mensch nur "ein verächtliches Wesen" (Marx) sein kann, in einem gesellschaftichen Verhältnis aufzuheben, in denen die Menschen die Geschichte ihres Lebens als Geschichte ihrer Lebensäußerung (siehe auch Tätigkeit, Arbeit) begreifen können.