Zahl

Aus kulturkritik

"Dass allein eine Welt-Interpretation im Rechte sei, bei der ihr zu Rechte besteht, bei der wissenschaftlich in eurem Sinne [...] geforscht und fortgearbeitet werden kann, eine solche, die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehn und Greifen und nichts weiter zulässt, das ist eine Plumpheit und Naivität, gesetzt, dass es keine Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist. [...] Gesetzt, man schätze den Werth einer Musik darnach ab, wie viel von ihr gezählt, berechnet, in Formeln gebracht werden könne – wie absurd wäre eine solche "wissenschaftliche" Abschätzung der Musik! Was hätte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt! Nichts, geradezu Nichts von dem, was eigentlich an ihr "Musik" ist!" (Nietzsche "Die fröhliche Wissenschaft", 2009, 285f.)

Eine Zahl kann nur etwas Ganzes formulieren, die Position eines in sich geschlossenen Zusammenhangs vieler Eigenschaften (siehe auch Positivismus). Sie kann nur eine relative Wahrheit ihrer Beziehungen formulieren, ganz gleich, woraus dies entstanden sind und was sie bewegen und welche Verhältnisse sie begründen können. Eins und Eins ist immer nur als Summe zweier Ganzheiten wahr (siehe auch Quantität) und bleibt sich nur in ihrer Abstraktion gleich (siehe hierzu auch Gleichheit). Von daher können sich ihre Beziehungen auch nur im Gemenge, nur als Summe – nicht als Erzählung – entsprechend verwirklichen. Es können Preise (siehe auch Arbeitslohn) keinen Zusammenhang wirklicher Werte und von daher auch nicht die wahre Gesellschaftlichkeit ihrer Tauschwerte formulieren. Die verwirklichen sich nur relativ als Summe im zeitlichen Wechsel ihrer Beziehungen als Gegenwärtigkeit der Wirklichkeit ihrer Wertschätzung: Geld als Maßstab der Preise in der Relation zu Geld als Maß der Werte wahr machen (siehe Wertrealisierung).

"Ein Element des Erfolges besitzt sie, die Zahl. Aber Zahlen fallen nur in die Waagschale, wenn Kombination sie vereint und Kenntnis sie leitet." (Karl Marx Oktober 1864, "Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation", MEW 16, S. 5-13)

Eine Zahl stellt die Menge vereinheitlichter Einzelheiten von Gegenständen, von Ereignissen, Sachen, Menschen usw. dar, die darin als bloße Größen ihrer Vereinzelung, als Monaden gerechnet, in einer ihnen äußerlichen Einheit zuaammengefasst sind. Jede Zahl enthält eine Erzählung, die in ihr abstrakt aufgehoben und aufgeteilt ist. Die Zahl als solche ist also nur die Abstraktion eines Quantums, geradezu gegen die Erzählung wie ein Statist ihrer Zusammenhänge herausgestellt, als bloße Statistik ohne einen Sinn für ihre Geschichte. Sie formuliert eine Menge ohne eine andere Bestimmung als die des Aufgezählten, und sie wird nur durch das bestimmt, was ihren Bezug ausmacht (z.B. Dichte, Größe, Fläche oder Raum). Eine Menge kann man sich eigentlich nur als bestimmte Menge (z.B. als ein Haufen Steine o.ä.) vorstellen. Dennoch können Zahlen in ihrer Unbestimmtheit Bestimmungen enthalten, als unbestimmte Mengen, wenn sie als Verhältniszahlen gültig werden (z.B. in der Mathematik). Mit Zahlen sind Verhältnisse in quantitativem Bezug, also als logische Quantität darstellbar, nicht aber Dinge. Die Zahl ist in sich unbestimmt und wird auch als Maß nur relativ wirklich. Sie verschwindet gänzlich in der Masse, worin nurmehr der reine Stoff quantitative Wirkung hat.

"Die formale Logik war die große Schule der Vereinheitlichung. Sie bot den Aufklärern das Schema der Berechenbarkeit der Welt. Die mythologisierende Gleichsetzung der Ideen mit den Zahlen in Platons letzten Schriften spricht die Sehnsucht aller Entmythologisierung aus: die Zahl wurde zum Kanon der Aufklärung. Dieselben Gleichungen beherrschen die bürgerliche Gerechtigkeit und den Warenaustausch. "Ist nicht die Regel, wenn Du Ungleiches zu Gleichem addierst kommt Ungleiches heraus, ein Grundsatz sowohl der Gerechtigkeit als der Mathematik? Und besteht nicht eine wahrhafte Übereinstimmung zwischen wechselseitiger und ausgleichender Gerechtigkeit auf der einen und zwischen geometrischen und arithmetischen Proportionen auf der anderen Seite?" Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert." (Theodor W. Adorno "Dialektik der Aufklärung" Fischer 2002 S. 13)

Logisch stellen Zahlen immer Kategorien dar, z.B. Zeit, Raum oder Fläche, die auch selbst logische Verhältnisse ausdrücken können, soweit sie zugleich zahlenunabhängig, also variable Mengen sind, die sich in Variablen darstellen lassen (vergl. z.B. den Satz des Pythagoras). Von daher können sie durchaus auch natürliche Verhalte zum Ausdruck bringen (z.B. chemische Formeln), die darin allerdings nicht ihre Natur sondern nur das Interesse an ihrer Verhältnisform darstellen. Natur ist darin lediglich die (menschliche) Vorstellung vom Naturstoff (z.B. den Elementen), wie sie für den Menschen sind. Dies ist selbst nur innerhalb eines geschichtlich gewordenen Bewusstseins, nicht an sich. Als Vorstellung zu bestimmten Zusammenhängen drücken Zahlen also Verhältnisse aus, die als solche gedacht werden können, wenn die darin enthaltenen Beziehungen denkbar sind. Von daher taugen sie besonders zur Herstellung von Algorithmen in der Technik und Physik (z.B. auch als Computerprogramm).

Als Aussage aber enthalten sie auch in bester Signifikanz nur die Aussage, welche mit ihrer Hilfe gefunden werden soll, die Relation, für welche sie Maße bieten. Für sich haben sie keinerlei Wahrheit. Von daher sind sie lediglich Beziehungsformen der formalen Logik.

Eine Zahl kann daher durch sich selbst auch keinerlei Wahrheit belegen - außer der bloßen Menge einer Fiktion (vergl. z.B. fiktives Kapital). Zahlen als solche sind fiktiv. Gerne werden sie als quasi objektive Formulierung von Maßen eines Zusammenhangs genommen (z.B. als Statistik) und als solche diskutiert. Aber die Statitistik kann zahlenmäßig auch nur formulieren, was subjektiv in sie eingebracht wird. Die Betimmtheit des Bezugs der Zahlen bleibt hierbei daher immer strittig, weil das Quantum selbst ein und desselben Zusammenhangs verschieden interpretiert werden kann (z.B. was die zahlenmäßige Aussage für wen heißt, wenn Börsenkurse sinken oder steigen). Zahlen verbergen Luftschlösser ebenso wie harte Fakten. Und die Fakten selbst lassen sich nicht durch Zahlen bewahrheiten, sondern nur aufzählen. Eine Beweisführung durch Zahlen hat keine andere Wahrheit als das, was sie erzählen.

Wenn Zahlen erzählen können, haben sie die Wahrheit der Erzählung. Soweit sie das nicht tun, taugen sie für jede Täuschung. In der bloßen Zahl ist alles verschwunden, was ihre Entstehung ausgemacht hat. Dennoch läst sich an der Veränderung von Zahlen auch Geschichte und die Bewegung in Verhältnissen ablesen, so die Zahl das Erzählte auch wirklich meint und trifft. So hat die Zahl in der Wissenschaft über die Statistik eine sonderbare Bedeutung: Einerseits beschreibt sie die gemeinten Merkmale als Aufhäufung ihres Auftretens, andererseits reduziert sie das auftretende Merkmals auf einen Zähler, dessen Nenner beliebig sein kann. Der Bezug, also das Verhältnis von Ereignissen, wird zur Abstraktion einer Masse, die in beliebigigem Verhältnis zu anderen Ereignismassen oder Ereignisvarianzen stehen. Eine Beweisführung ist damit ausgeschlossen, wird aber dennoch betrieben, indem die Beliebigkeit der zahlenmäßigen Beziehung durch eine Hypothese gefüllt wird. So klingt es immerhin plausibel, wenn "bewiesen" wird, dass die Kinder vom Storch gebracht werden, wenn die Abnahme des Storchenflugs mit der Abnahme der Kindsgeburten signifikant korreliert. Dennoch bleibt die Aussage eine bloße Behauptung und beruht alleine auf einer bestimmten Sortierung von Wahrnehmungen, die zur Ermittlung von Zahlen entwickelt wird.

So ist es auch, wo Zahlen Geschichte repräsentieren sollen. Nichts ist schwieriger als eine Scheidung oder Trennung durch Zahlenwert, als wenn eine Geschichte in Zahlen, meist eben durch Jahreszahlen oder durch die Bezifferung von Summen, z.B. Geldsummen, dargestellt oder aufgehoben wird. Eine Jahreszahl ohne Kenntnis der damit verbundenen Geschichte besagt gar nichts. Und jeder Scheidungsrichter kennt das Problem im Übermaß, wenn es darum geht, eine zwischenmenschliche Beziehung in Sachwerten zu bemessen. Dies ist eigentlich unmöglich oder könnte sich nur in reinen Sachbeziehungen lösen lassen. Das Verhältnis von Menschen, besonders auch zu abhängigen Menschen, Kindern, wird darin zwangsläufig beschädigt, manchmal auch vernichtet. Der Aktionär kann im Vorhinein darüber informiert sein, dass sein Geld auch vollständig kaputt gehen kann. Nur im Nachhinein kann er es wissen. Bei Zufällen von Erfolgslagen, der Abwägung der Beiträge hierfür ahnt keiner, welches Quantum hiervon abhängig ist, weil die Beziehungen, die sich darin abbilden, noch nicht wahrgehabt werden, sondern lediglich als Wahrnehmung bestehen. Gerne werden daher oft Erzählungen durch die Heftigkeit von Zahlen, Mengen und Größen entwertet (wie etwa das "Jäger- und Anglerlatein").

In einer logischen Darstellung von Zusammenhängen allerdings können Zahlen geradezu erhellend sein - allerdings nicht als positive Repräsentanten der Zusammenhänge, sondern in der Logik ihrer Variation. So hat Marx den "tendenziellen Fall der Profitrate" in der Variation der unterschiedlichen Verhältnisse zwischen Gesamtkapital und seinen Bestandteilen (variables Kapital, konstantes Kapital und Mehrwert) beweisen und dies in höhere Beziehungen zur Mehrwertrate stellen können. Hierdurch ist die bewahrheitung komplexer Aussagen im Zusammenhang eines Begriffs, eines ganzen Gedankens oder in einer Geschichte möglich.

Meist dienen Zahlen der Bewertung. Darin werden Verhältnisse ausgedrückt, die sich nur quantitativ darstellen, sich aber als Gewohnheit der Werte in diesen Zahlen qualitativ regeln, indem sie z.B. verschiedenen Lebensstandard in eine Beziehung setzen. Was sich darin erweist ist immer nur die Sortierung von Wahrnehmungen. Wer z.B. den Lebensstandard eines Menschen in der Dritten Welt bei 1 Doller pro Tag ermitteln will, kann nur in Bezug der Devisenmärkte zu den Inlandsmärkten fündig werden. Die Zahl für sich macht keinerlei Aussage, sie zeigt sich schon unserer Gewohnheit völlig unsinnig. Und das war schon im 19 Jhd. klar und durch die Einkommenslisten der Steuer (Zensus) belegt:

"Die Einkommen- und Eigentumssteuerlisten, am 20. Juli 1864 dem Hause der Gemeinen vorgelegt, zeigen, daß die Personen mit jährlichen Einkommen von 50.000 Pfd.St. und über 50.000 Pfd.St. sich vom 5. April 1862 bis zum 5. April 1863 durch ein Dutzend und eins rekrutiert hatten, indem ihre Anzahl in diesem einen Jahr von 67 auf 80 stieg.

Dieselben Listen enthüllen die Tatsache, daß ungefähr dreitausend Personen ein jährliches Einkommen von ungefähr 25 Millionen Pfd.St. unter sich teilen, mehr als das Gesamteinkommen, welches der Gesamtmasse der Ackerbauarbeiter von England und Wales jährlich zugemessen wird!

Öffnet den Zensus von 1861 und ihr findet, daß die Zahl der männlichen Grundeigentümer von England und Wales von 16.934 im Jahr 1851 herabgesunken war zu 15.066 im Jahre 1861, so daß die Konzentration des Grundeigentums in 10 Jahren um 11 Prozent wuchs. Wenn die Konzentration des Landes in wenigen Händen gleichmäßig fortschreitet, wird sich die Grund- und Bodenfrage (the land question) ganz merkwürdig vereinfachen, wie zur Zeit des Römischen Kaiserreichs, als Nero grinste über die Entdeckung, daß die halbe Provinz von Afrika 6 Gentlemen angehörte. (Karl Marx Oktober 1864, "Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation", MEW 16, S. 5-13)