Sozialstaat
"Die Konstitution des politischen Staats und die Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft in die unabhängigen Individuen - deren Verhältnis das Recht ist, wie das Verhältnis der Standes- und Innungsmenschen das Privilegium war - vollzieht sich in einem und demselben Akte. Der Mensch, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ist, der unpolitische Mensch, erscheint aber notwendig als der natürliche Mensch. Die droits de l´homme erscheinen als droits naturels >natürliche Rechte<, denn die selbstbewußte Tätigkeit konzentriert sich auf den politischen Akt. Der egoistische Mensch ist das passive, nur vorgefundne Resultat der aufgelösten Gesellschaft, Gegenstand der unmittelbaren Gewißheit, also natürlicher Gegenstand. Die politische Revolution löst das bürgerliche Leben in seine Bestandteile auf, ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen. Sie verhält sich zur bürgerlichen Gesellschaft, zur Welt der Bedürfnisse, der Arbeit, der Privatinteressen, des Privatrechts, als zur Grundlage ihres Bestehns, als zu einer nicht weiter begründeten Voraussetzung, daher als zu ihrer Naturbasis." (MEW 1, Seite 369f)
Der Sozialstaat bezieht sich auf die Pflege und Erhaltung einer menschlichen Natur, die dem bürgerlichen Staat allerdings nur in der Form einer allgemein privaten Persönlichkeit vorstellbar ist. Hierbei kann ihm seine Existenzbedingung, das bürgerlich existierende Subjekt, als personifizierte Natur erscheinen, die er als seine wesentliche Grundlage versteht, während er alleine die Funktionalität ihrer Nutzung wie auch der Natur im Allgemeinen zu gewährleisten hat. In diesem Widerspruch der Beziehung auf "seine Bürger" in der abstrakten Allgemeinheit der Natürlichkeit der Erscheinung ihrer politischen Bestimmtheit gibt er sich als ihr natürlicher Agent und betreibt und unterstützt die Entwicklung einer somit auch natürlich scheinenden Pflege und Vorsorge in den Mangelerscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft. Diese selbst wird darin herabgesetzt zu einer bloßen Gemeinschaft innerhalb des kapitalistischen Gesellschaftssystems, welche der Produktion einer Massenarmut entgegentritt, die in Krisenzeiten eine logische Folge der kapitalistischen Produktionsweise ist.
Von daher hat der Staat die Aufgabe, mittels Steuergelder und Sozialkasse absolute Existenznot von Personen abzuwenden, die aus dem Produktionsprozess herausfallen (z.B. bei Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit). Au�erdem bem�ht er sich um deren Reintegration in den Arbeitsprozess, zumindest um ihren Erhalt als potenzielle Arbeitskr�fte und als Konsumenten. Hierdurch bleiben auch die Randst�ndigen einer kapitalistischen Gesellschaft wirtschaftlich funktional: Als Konsumenten tragen sie zum Verzehr des Mehrprodukts und also zur Realisierung des Mehrwerts bei; als potenzielle [[Arbeitskr�fte]] stehen sie weiter in Konkurrenz zu den aktiven Arbeitskräften, deren Lohn sich durch die M�glichkeit potenzieller Verbillung in den Preisverhandlungen mit ihren Auftraggebern (oder "Arbeitgebern") an ihnen und an der Existenzangst um die Arbeitslosigkeit best�ndig auf sein unterstes Niveau dr�cken l�sst: Auf die Reproduktionskosten der Arbeitskraft, auf die Kosten der Lebensmittel, die alleine zu ihrem Lebenserhalt n�tig sind. Marx sprach in diesem Zusammenhang von der "Reservearmee des Kapitals", den die randst�ndigen Arbeitskr�fte darstellen, während der bürgerliche Staat sich als Garant einer auch im sozialen und wirtschaftlichen Elend behaupteten Menschnewürde gibt:
"Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.en Arbeitskr�fte darstellen.
Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu." (Urteil BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010)
Die wichtigsten Einrichtungen des Sozialstaates sind die Rentenkassen, die Sozialversicherungen, die Gesundheitsf�rsorge (mit gesetzlichen Krankenkassen) und die freien und kirchlichen Wohlfahrtsverb�nde. Finanziert werden die Sozialausgaben durch Sozialabgaben aus Kapital und Arbeit zu gleichen Anteilen, gest�tzt durch Versicherungspflichten und durch Steuergelder der Gemeinden.
Die Grundlagen des Sozialstaates wurden von Birmarck zum Ende des 19. Jahrhunderts geschaffen, nachdem die Aufruhr durch die Armen und durch verarmte Proleten und Handwerker f�r erhebliche Irritationen der Entwicklung des Kapitalismus sorgten. Er verbot deren Organisationesformen durch die sogenannten Sozialistengesetze und bot im Gegenzug eine staatliche F�rsorge f�r die Armen, die bisher alleine von den Kirchen getragen worden war. Hierbei gewann er zugleich im sogenannten Kulturkampf ein wichtiges soziales Terrain der Kirchen zur Sicherung staatlicher Politik und Propaganda.
Der Sozialstaat war weniger einer Entwicklung der Sozialethik geschuldet, als der Notwendigkeit des Kapitalismus in der zweiten H�lfte des 19. Jahrhunderts, die durch technologische Entwicklung m�glich gewordene Verwendung von Anteilen des Mehrprodukts zur Schlichtung kapitalistischer Krisen und Konflike einzusetzen. Massenarmut ist f�r den Kapitalismus nicht nur ein soziales oder psychologisches Problem, sondern auch Moment eines Selbstzerst�rungsprozesses, der aufgehalten werden muss, um die Quellen der Produktverwertung (Arbeitskr�fte, Arbeitspotenziale, Sicherheit von Besitz an Lebensmittel, Produktionsmittel, Grund und Boden und der Konsum der Produkte) nicht zum Versiegen zu bringen. Der Sozialstaat war somit das bedeutendste Krisenmanagement des modernen Staatsverst�ndnisses, das als Puffer gegen die Abw�rtsspirale der Massenarmut zwischen Produktion und Konsumtion geschaltet wurde. Denn darin spielte sich die gesellschaftliche Trag�die des Kapitalismus offensichtlich ab.
"Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde." (MEW, Bd. 25, S. 501).
Aus dem Mehrprodukt wurde somit durch den Staat, welcher den Gesamtprozess des Kapitalismus zu sichern hat, ein Teil zur Sicherung der allgemeinen gesellschaftlichen Reproduktion f�r alle Krisenf�lle einbehalten wie eine Art Staatsrendite, die zu verausgaben ist, um dem gesellschaftlichen [[Zerst�rung]]sprozessen des Kapitalismus f�r seinen Fortbestand �ber siene Krisen hinaus entgegen zu wirken.
Der Staats�konom Keynes hat dies zu einer Staatstheorie fortgetrieben, in welcher alle Prozesse des Verh�ltnisses von Produktion und Konsumtion zugunsten eines m�glichst krisenfreien Kapitalismus durch die Politik des [[b�rgerlichen Staates]] reguliert werden sollten, indem die Steuerpolitik zwischen Armut und Reichtum Ausgleich zu schaffen hatte und der wachsenden Produktion auch eine wachsende Konsumtion, eine allgemeine und stetige Entwicklung des Lebensstandards der Menschen abverlangen wollte. Der Kapitalismus erschien nach dieser Theorie als im wesentlichen krisen- und gewaltfreies Entwicklungspotenzial der Menschheit und als gute Alternative zu Sozialismus und Kommunismus - und so geb�rdete er sich auch im "kalten Krieg" gegen den Ostblock und dessen Entwicklung zum Stalinismus. Dies war eine der bedeutenden theoretischen Grundlagen der Sozialdemokratie und des Systemstreits der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts bis zum Niedergang des "real existierenden Sozialismus". Der durch den Staat geb�ndigte, der regulierte Kapitalismus erschien als moderne Aufl�sung des Klassenkampfes, der eine ganze Epoche kapitalistischer Produktion, den sogenannten Fordismus befl�gelt hatte und die USA zur Avantgarde-Nation des Kapitalismus werden lie�.
Doch dieses "menschliche Antlitz des Kapitalismus" verlor seine Grundlagen mit dem Untergang der "sozialistischen Gesellschaftssysteme" und der damit entfesselten Kapitalwirtschaft auf den Weltm�rkten, die keine Beschr�nkungen durch weltpolitische Interventionen der "Sozialistischen L�nder" mehr zu f�rchten hatten. Mit der darauf beruhenden Globalisierung entwickelten sich weltweit operierende Finanzgesellschaften, die in Transnationalen Konzernen eine weltweit gewordene Abh�ngigkeit vom Geldsystem des Westens durch direkte Ausbeutung nationaler Strukturen und Probleme der armen L�nder zu nutzen verstanden.
Die so gewonnene Macht der Finanzm�rkte stand jedoch im Widerspruch zu den Interessen des Nationalstaates, dem das Keynes'sche Modell der Krisenintervention entsprach. Deren Leistungen f�r solchen Staatsformen, namentlich die Steuern und Sozialabgaben, w�rden fl�chtig und die Staaten abh�ngig in ihrer Dienstbarkeit f�r das internationale Kapital. Dieses konnte sich jeden "Wirtschaftsstandort" durch eigene Anforderungen erpressen. Hierdurch wurde ihre regulative Funktion so sehr bedr�ngt, dass sie weitgehend aufgegeben werden muss. Der Sozialstaat ger�t so zunehmend in die Abschusslinie des Weltmarktes.
Die Ideologie des Neoliberalismus formulierte diesen Verlust an Selbstkorrektur des Kapitalismus als Gewinn von Chancen f�r einen radikalen Kapitalismus, der im Durchsatz des wirtschaftlichen Reichtums gegen die Armut zum Weltprinzip der besseren "Gestaltunskraft" werden wollte. Aber im Einnahmeschwund der Staaten wuchs die Staatsverschuldung und bedroht im Prinzip jeden Nationalstaat, der sich nicht durch Exporte und Anbiederung an die internationalen M�rkte "reproduktionsf�hig" erweist, mit der Schuldenspirale in den Staatsbankrott. Von daher ist die "Gestaltungskraft" des Kapitals eine Vernichtungswaffe gegen seine eigenen Bedingungen, ein R�ckfall in die Verh�ltnisse des 19. Jahrhundert. Er bedeutet eine reaktion�re Aufl�sung des Nationalstaates hin zum Internationismus eines weltweiten Ausbeutungsverh�ltnisses bis zur Vernichtung aller wirtschaftlich sinnvollen Verh�ltnisse. Eine fortschrittliche Aufhebung des Nationalstaates kann nur durch die �konomischen und kulturellen Entwicklungen der V�lkerverst�ndigung und der wechselseitigen Bereicherung geschehen. Und das macht eine Entwicklung der Menschen zu einer Weltgesellschaft gegen die Globalit�t des Kapitals absolut notwendig.