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Wolfram Pfreundschuh
Arbeit am Wahnsinn
- eine Anwendung dialektischer Erkenntnistheorie
als Kritik der politischen Psychologie
Erste Fassung vom M�rz 1979 - �berarbeitet im Dezember 2002
Einleitung zum Bericht einer Betreuung
Wir waren eine Gruppe von Psychiatrie-Betroffenen, Berufst�tigen, Studenten, Sozialarbeitern, P�dagogen, Philosophen und Psychologen, die sich Anfang der 70er Jahre gegr�ndet hatte, um Menschen beizustehen, die in die F�nge der Psychiatrie geraten waren oder zu geraten drohten.
Die gemeinsame Grunderfahrung war, dass vieles getan werden konnte, um den Teufelskreis einer seelischen Verzweiflung und das Verschwinden in den Einrichtungen der herrschenden Gesundheit zu unterbrechen. Psychische Isolation ist der wesentliche Umstand, der den Kreislauf der Not abw�rts treibt. Die Therapieangebote der Psychologie und Psychiatrie waren oft keine Alternative; im Gegenteil: Die reine Besprechung dieser Isolation mit den Experten der Seele und die sogenannte "Behandlung“ best�rkte sie eher nur oder erzeugte rethorisch begabte Egozentriker oder chemische Zombies. Schon einzelne Beziehungen, Gespr�che und Diskussionen, die in dieser Gruppe im Wissen um das Problem des sozialen Abseits und den Methoden der Psychologie und Psychiatrie entstanden, verhinderten oft das "Abst�rzen“ ins Nichts, weil sie unter wirklich interessierten Menschen R�ckhalt fanden.
Zugleich wollten wir uns mit den gesellschaftlichen Gr�nden der "psychischen Krankheit“ befassen und die �ffentlichen Reaktionen hierauf beeinflussen. Sie spielten in der Abw�rtsspirale im Leben der Betroffenen eine zentrale Rolle. Zu oft wurde aus einfachen Lebenskrisen ein psychiatrischer Aufenthalt mit fatalen Folgen f�r den Lebensweg der Betroffenen: Stigmatisierung, "Karriereknick“, Hospitalisierung. Ein weiteres Problem waren auch die k�rperlichen und geistigen Konsequenzen der Psychopharmakaeinnahmen. Sie wurden von der Psychiatrie und der �ffentlichen Meinung als Fortschritt der Psychotherapie gefeiert und entsprechend vorbehaltslos eingesetzt. Daneben gab es auch noch die �lteren "Kuren“, die Elektro- und Insulinschocks, brutale Eingriffe in den Organismus, die oft zum Totalausfall der geistigen Bewegungsf�higkeit f�hrten und f�r viele das ganze weitere Leben bestimmten. Von Konzentrationsst�rungen und Unrast geplagt, suchten einige einfach nur Anschluss an eine Gruppe, die offen f�r sie war und sich nicht propsychiatrisch �u�erte oder bet�tigte, sondern diese K�perverletzungen als Lebenszertr�mmerungen bezichtigte, die aus blo�em Interesse an Kostenminimierung begr�ndete. Tats�chlich kamen bald immer mehr Menschen – entweder um diese Zust�nde der psychischen Isolation und Kasernierung anzuprangern und Alternativen aufzubauen und zu nutzen, oder weil sie nirgendwo anders eine Kontaktm�glichkeiten und eine wirkliche Antwort auf ihre Lebenssituation gefunden hatten.
Letztere konnten ihre Vereinsamung oft nicht mehr von ihren Problemen unterscheiden, weil es das zentrale Problem für sie geworden war. Einige hatten die "Drehtürpsychiatrie“ nicht nur zu fürchten (17), sondern waren schon mitten in der Psychiatrisierung gefangen. Der Club wurde zunehmend für elementare und existentielle Probleme "zuständig“. Bald wurden Mittel und Räume nötig, um dem Zulauf entsprechen zu können. Die Evangelische Studentengemeinde stellte ein Büro und einen Besprechungsraum zur Verfügung. Unter dem Dachverband der Inneren Mission als Trägerverein wurde der TC in die Lage versetzt, öffentliche Gelder zu bekommen und wurde so "im Vorübergehen“ bald eine quasi offizielle Einrichtung, die über die Studentengemeinde als eine Beratungsstelle geführt wurde. Schon bald erhielten wir auch von der Stadt München und schließlich vom Bezirk Oberbayern entsprechende Zuschüsse.
Um öffentliche Gelder zu erhalten, gündeten wir 1972 einen Verein, den wir den Therapeutischen Club e.V. nannten. Der Name sollte eine etwas lockere Kritik an der bestehenden "Therapie psychischer Krankheit“ ausdrücken und zeigen, worum es eigentlich auch gehen könnte: Um das Zusammensein von Menschen, die sich nicht therapeutisch institutionalisieren lassen wollen und die eine solche Beziehung schon als das ansehen, was Therapie nur verspricht und hochstilisiert. Der Club sollte vor allem gegen das Ausflippen in Krisensituationen helfen, etwa wie es der Begriff Selbsthilfegruppe heute umschreibt.
So entstanden Arbeitsstellen für einen Psychologen und einen Sozialarbeiter. Das war unumgänglich, wenn wirklich etwas gegen die elenden "Psychiatriekarrieren“ getan werden sollte: Man benötigte Gutachten, alternative Existenzabsicherung, Supervision und auch Beratung, die über die durchschnittliche Lebenserfahrung hinausging. Damit sich solche Expertenleistungen aber nicht dieser Erfahrung in altbekannter Ignoranz verselbständigen konnte, wollten wir diese Stellen nicht an Professionelle vergeben, die sich unseren Diskussionen und Auseinandersetzungen mit irgendeinem "Fachwissen“ überordnen und entziehen konnten. Es gab hiervon zu viele, die solche Position nur als Entwicklung ihrer Pofessionalität und Sprungbrett zu einer bürgerlichen Karriere nutzen wollten. Also wurden die Stellen nur an Leute vergeben, die sich vollständig in den Verein integrierten und ihren Lohn mit fünf sogenannten "Laienhelfern“ zu teilen bereit waren. Laien bekamen von öffentlichen Geldern nichts ab, auch wenn sie denselben Aufwand für ihr Tun hatten, wie die Profis. Die Umlage sollte dem Verein insgesamt nutzen und professionellem Besitzstandsdenken entgegenstehen. Alle Betreuer, ob Profi oder Laie, wurden einfach nur als kräftige Menschen mit Hintergrundwissen angesehen. Und die Kräftigen wurden gebraucht, um die Schwachen zu stützen.
Es entstand so etwas wie ein Betreuerteam der Erfahreneren, die sich zur Beratung und Hilfeleistung geeignet fanden (60). Unsere Hilfe bestand bald aus der Organisation und Betreuung von Wohngemeinschaften, Gruppengesprächen und Einzelbetreuungen. Das Elend der Psychiatrie und Psychotherapie war zu jener Zeit kritischen Menschen allseits bekannt. Es mussten Grundlagen geschaffen werden, um die Ausrichtung der Hilfe, ihre Möglichkeit und ihre Grenzen und auch ihren Sinn zu bestimmen. Durch eine Befassung mit der sogenannten "psychischen Krankheit“ und mit der Abweisung des psychiatrischen und bürgerlichen Krankheitsbegriffs kam die Diskussion schnell auf die gesellschaftlichen Mechanismen der Ausgrenzung und Stigmatisierung nicht integrierter Menschen. Es entstand eine gesellschafts- und kulturkritische Position, die zu jener Zeit auch in anderen Bereichen bürgerlicher Existenz verbreitet war. Über eines waren wir uns schnell einig: Niemals sollten Psychopharmaka von uns empfohlen oder weitergereicht werden. Um die Internierung in eine psychiatrische Anstalt oder die Einnahme von chemischen Prothesen und Gefühlsblocker zu verhindern, sollten alle möglichen Auseinandersetzungen mit den Problemen der Betroffenen versucht werden. Außerdem sollte der Rückhalt der so entstandenen Beziehungen einen Aufenthalt in der Psychiatrie abkürzen, wenn er für den Betroffenen selbst nicht zu umgehen war.
Wir verstanden unseren Club als eine Selbstorganisation mit einem kulturkritischen Anspruch. Schon von daher hatten wir in der damaligen Psychoszene, die sich inzwischen auch lebhaft entwickelt hatte, eine Randposition, denn dort war Teestube mit Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung angesagt, nicht "das ständige Problematisieren“ von Kultur und Gesellschaft. Auch bei uns gab es Selbsterfahrungsgruppen. Darin wurden aber die geschilderten Probleme mit der Selbstwahrnehmung immer in einen Bezug zur Fremdwahrnehmung gestellt. Diese war unser Thema und Bezugspunkt für die Selbsterfahrung: Wer oder was zwingt dich zu sein, wie du nicht sein kannst oder willst? Und: Warum machst du das alles mit? Die Themen waren von der Gruppe selbst ausgewählt und Gegenstand der Auseinandersetzung, die von theoretischen Diskussionen bis hin zu heftigen emotionalen Streitigkeiten reichten. Meist war beides ineinander verwoben, und deshalb sollte ein Erfahrener, ein "Tutor“ hierfür Supervisionsaufgaben leisten.
Deshalb hatte der Therapeutischen Club e.V. einen Doppelcharakter, der nicht unproblematisch war (20). Er bot Menschen, die in Lebenskrisen waren, Kontaktm�glichkeit und Hilfe in sozialen Schwierigkeiten (durch Wohngemeinschaft, Betreuung, Treffen etc.). Und er bot Menschen, die ihren Sozialberuf nicht in seiner gesellschaftlich geforderten Funktion aus�ben wollten, die M�glichkeit, an den Grundlagen dieses Berufs, an dessen Begriffen und "Ma�nahmen“, in einer Weise zu arbeiten, die in der Ausbildung nicht vorkam: In permanenter Auseinandersetzung mit sich und anderen Menschen – auch mit Menschen, die sonst zum "Gegenstand“ ihrer T�tigkeit und zum Mittel ihrer Subsistenz bestimmt waren. Hier jedenfalls war es zumindest m�glich, dass sich Berufst�tige und von ihren unmittelbaren Lebensnotwendigkeiten "Betroffene“ nicht nur f�r sich zu Wort kamen, sondern sich �ber ihre Vergegenst�ndlichung, ihre Unterworfenheit im gesellschaftlichen Alltag (Rolle, Beruf, Familie) und den Objektivationen der Kultur (Gef�hle, Faschismus, Lebensstile) verst�ndigen konnten. Die Lebensunterschiede blieben durch unterschiedliche Rollen weiterhin erhalten. In einer Art Koexistenz von Betroffenen und politisch und wissenschaftlich motivierten Leuten sprang das, was interessierte (z.B. Kritik der Psychopharmaka und der Institution Psychiatrie), auch wirklich �ber. Die Mitglieder konnten die Positionen je nach eigener Lebenslage jederzeit wechseln: Es gab Betreuer, Betreuerinnen und Betreute. Der Rollenwechsel war aber eher selten. H�ufig aber war der Wechsel im inhaltlichen Bezug auf die Probleme; wer da wem half, nicht eindeutig auszumachen.
Dabei wurde aber nicht eine Methode f�r seelische Verwirklichungen angewandt. Es sollte um die Erarbeitung einer Unterscheidung gehen, die n�tig ist, um die objektiven Gr�nde f�r die eigene Gef�hlsprobleme, die Lebensr�umeder Gef�hle und Selbstgef�hle (z.B. Familie, Freundschaft, Ehe), ihr subjektiver Niederschlag (wie z.B. Schuld, Lebensangst, Zw�nge und Depressionen) (10) und ihrer Subjektivit�t im Leben, also das Leiden an der Existenz objektiver Lebensbestimmungen (Einsamkeit, Existenzangst, Berufsprobleme, Rollenkonflikte), auseinanderhalten zu k�nnen. In diesen Gruppen sollte die Vertiefung einer subjektiven Problematik nicht verhindert, aber doch "auf Distanz“ gehalten werden, wenn die Gefahr bestand, dass sie im Prozess der vielen Daf�r- und Dagegenhaltungen zerredet oder abstrakt vermengt wurde. Hierf�r waren aus eben diesem Grund Einzelbetreuungen vorgesehen, die von den Erfahreneren (Tutoren) nach Absprache eingegangen werden konnten. Nicht desto trotz gab es gerade auch in diesen Gruppen viele Selbsterkenntnisse, die wiederum in Einzelgespr�chen nicht m�glich gewesen w�ren.
Die meisten der zeitweise 30 bis 50 Mitglieder st�berten in den Angeboten des "Therapeutischen Clubs“ herum. Die Angestellten (inzwischen zwei Sozialarbeiter, ein Psychologe, eine Schreibkraft und f�nf "Tutoren“) hielten das Ganze am Laufen. Und die "Wissenschaftler“ (Psychologen, Soziologen, P�dagogen und Philosophen) trafen sich in den entsprechenden Arbeitskreisen zu ihren Themen. Sie waren zum gr��ten Teil in die praktische Arbeit einbezogen.
Wir trafen uns also zu "Selbsterfahrungsgruppen“, zu Geselligkeiten (Kino, Sport, Essen usw.) und zu Diskussionen (Arbeitskreise und Plenum). Daneben gab es die Einzelbetreuungen, die mit dem Gruppenleben wenig zu tun hatten, die allerdings im "Tutorentreffen“ besprochen wurden. Die Einzelbetreuungen fanden entweder als Besuch in der Psychiatrie, in einem einfachen Zusammensein (z.B. zum Spaziergang oder Baden) oder auch mal im B�ro statt. Anfangs hatten wir nur die R�ume in der Evangelischen Studentengemeinde. Sp�ter bot ein von der Stadt gemietetes Haus am Stadtrand zudem einen Treffpunkt mit Gruppen- und Arbeitsraum und K�che.
Ich schreibe hier �ber eine Arbeit am Wahnsinn. Das setzt sich davon ab, was seine Umst�nde betrifft. Es geht mir also nicht um die Sorgen und Tatsachen, die er mit sich bringt, nicht um die Existenzweisen des Wahnsinns, die Bedingung seines Verschwindens oder die Mittel seiner Behebung. Es geht um eine Arbeit an seinem Sinn. Es muss bei einem Wahn wirklich etwas bearbeitet, entdeckt und herausgearbeitet werden, was sich nicht von selbst ergibt und wozu der Betroffene alleine meist nicht in der Lage ist. Doch das er�ffnet ein gro�es Problem: Wie kann etwas, was nur in einem Menschen quasi objektiv abzulaufen scheint, von anderen Menschen �berhaupt erkannt werden? Und was soll das Nachdenken hierbei, wo es f�r den betroffenen Menschen doch nur darum gehen kann, sich mit seinem Wahn zusammen zu finden? Es betrifft zweifellos den Kern menschlicher Identit�t, um den es hier geht – allgemein, wie individuell. Und es ist nat�rlich richtig, zu befragen, wie sich ein "fremder Mensch“ hierauf �berhaupt beziehen kann.
Der "Wahnsinn“ ist der Begriff f�r die Tatsache, wo sich der Sinn eines Menschen selbst�ndig vom Bewusstsein eines Menschn gemacht hat, sich ereignet wie ein �bersinn, dem sich alle Zug�nge der Erfahrung, der Wahrnehmung und des Wissens verschlie�en. In seiner abgeschlossenen Form als vollst�ndiges Fremderleben von inneren Stimmen, Halluzinationen oder abgetrennten Pers�nlichkeiten ist er zugleich der Knackpunkt aller Psychologie und Psychiatrie: Der Sinn, an dem sie ihre Auffassung des Seelischen erweisen m�ssen. Auch Naturwissenschaftler und Philosophen haben sich damit befasst und gezeigt, wie sie das seelische Leben und das Leben �berhaupt verstehen.
Besonders in der Philosophie wird der Wahnsinn als Gleichnis der geistigen Finalit�t des Menschen, wie auch als Kern menschlicher Wahrheit verwendet. Beides zusammen ist ein gigantischer Widerspruch, der sich zwischen Theologie und Kulturwissenschaft abspielt. W�hrend erstere in Gott den h�chsten menschlichen Sinn w�hnt, verlegt ihn letztere in die tiefste Wesenhaftigkeit der Kunst. Beides st��t sich dadurch vom Wahnsinnigen ab, dass sie seiner Selbstentfremdung eine weit h�here Entfremdung noch auferlegen: der Sinn eines fremden Geistes. W�re es aber nicht richtiger, die Existenz des Wahnsinns nicht einfach vollst�ndig zu bestreiten, ihn lediglich als vor�bergehenden Wahrnehmungszustand so sein zu lassen, wie er ist – bis er sich von selbst erledigt? L�sst er sich nicht mit jeder Form der seelischen Krise gleichsetzen als ein Ausrasten, das sich erledigt, wenn sich der Betroffene wieder eingerastet hat? Vieles spricht daf�r, zumal Wahnsinniges in dieser Art am h�ufigsten vorkommt, bevor die Wissenschaft, besonders die Psychiatrie, sich des Wahnsinnigen annimmt.
Doch auch mit dieser Haltung wird ein bedeutsamer Teil der Wahn-Sinnigen wieder ins Abseits gesto�en, wenn sie nicht ins Raster des Ausrastens passen. Sollen sie sich als "unnormale Wahnsinnige“ verstehen, wenn sie den Wahnsinn als ein Leiden ohne unmittelbaren Sinn f�r sich empfinden? Wird der Wahnsinn nur als Krise aufgefasst, also als eine vor�bergehende St�rung ohne wesentliche Bedeutung f�r den Menschen, so wird ja auch behauptet, dass sich der Betroffene unter besseren Umst�nden auch wieder unbeschadet weiterentwickeln kann. Mag sein, dass wahnsinnige Gef�hle oft vor�bergehende Zust�nde sind, die sich auch unmittelbar leicht aufheben, wenn sie zu einer ebenso unmitelbaren Erkenntis f�hren oder die Umst�nde ge�ndert sind, unter denen sie auftraten. Aber f�r viele Menschen ist er eben doch ein ganz zentrales und wesentliches Lebensproblem, das nicht umgangen werden kann. Ohne ihn direkt oder auf Umwegen anzugehen, l�sst sich dann nicht einfach weiterleben. Nat�rlich hei�t das nicht, dass andere Menschen deshalb gefordert sind, dieses Problem zu l�sen. Das k�nnen sie auch nicht. Aber denkende Menschen sollten ihn als geistige Herausforderung begreifen, die sie genauso wenig umgehen k�nnen, wie der Wahnsinnige seinen Wahnsinn.
Durch das Abtun des Wahnsinns als Krise oder sein Hervorheben als eine Art Bewusstseinserweiterung wird vor allem auch eine potentielle Erkenntnis des Seelischen verhindert: Welchen Sinn verfolgt es, wenn es in der Lage ist, die Abkehr der Sinne von der Wahrnehmung zu betreiben und sie selbst zu beherrschen? Ich gehe davon aus, dass diese Herrschaft auch wirklich das ist, als was sie empfunden wird: Fremdherrschaft im Menschen selbst. Und deshalb halte ich es f�r zynisch, sich von einem Nachdenken hier�ber abzuwenden.
Ich schreibe also von einer Arbeit am Wahnsinn, die ich im Rahmen meiner psychologischen T�tigkeit zu vollbringen hatte und meine damit das ganze Spektrum des Seelischen: Der Wahnsinn eines Menschen, der Wahnsinn einer Familie und der Wahnsinn einer Gesellschaft, in welcher Wahnsinnige sich nur fremd bestimmt f�hlen k�nnen. Es geht mir also nicht um den Bericht einer Betreuung um der Anteilnahme und Aufmunterung willen. Im Kern sind das, was ich hier niedergeschrieben habe, Beobachtungen und Gedanken, die ich zu jener Zeit notiert hatte. Zur besseren Lesbarkeit habe ich aus der Erinnerung heraus noch einige Ereignisse und Hintergr�nde hinzugef�gt und versucht, eine m�glichst authentische Geschichte wiederzugeben. Sie soll vor allem ein Beitrag zur Diskussion von Psychiatrie, Psychotherapie und Krankheitbegriffe sein und eine Art von Befassung mit dem Wahnsinn sein, wie sie nicht in den Lehrb�chern und wissenschaftlichen Abhandlungen vorkommt.
Ich kann nicht behaupten, eine besonders wirksame Hilfestellung entdeckt zu haben, die allgemein �bertragbar ist, oder �berhaupt direkt hilfreich gewesen zu sein. Meine Hilfe, wenn man das �berhaupt so nennen kann, beschr�nkte sich fast nur auf Gespr�che und meine Selbstvergegenw�rtigung in Situationen, in denen andere vielleicht fl�chten oder sich verstellen. Hierdurch wurde ich zu einer "Menschenbr�cke“, welche Wahnsinn unterbrechen konnte – und ein Frager, der Antworten auch f�r sich suchte. Aber es ist dennoch alleine dem Verm�gen der betroffenen Frau zu verdanken, dass sich die Geschichte gut gewendet hat. Allerdings waren auch die vielen beteiligten Menschen im Therapeutischen Club wichtig, die sich mit ihr und ihrem Wahn auseinandergesetzt hatten und sie dadurch menschlich nicht alleine gelassen war. Ohne die h�tte sie sicher nicht aus dem Wahn herausgefunden. So sagte sie es mir zum Schluss – Jahre, nach dem alles vorbei war.
Die Frau, mit deren Leben ich mich hier befasse, nenne ich aus den wohlbekannten Gr�nden des Pers�nlichkeitsschutzes einfach Maria. Vom Max-Planck-Institut wurde sie zu uns geschickt, weil sie in M�nchen alleine war und in eine Gruppe wollte, in der sich "Leute wie sie“ trafen. Maria war 26 Jahre alt und hatte ihre Arbeit aufgeben m�ssen. Jetzt war sie durch ein Angebot des Arbeitsamts in einer Weiterbildung zur Berufsberaterin. Die Ausbildung gefiel ihr und war f�r sie eine echte Perspektive.
Sie war ganz anders, als ich sie mir vorgestellt h�tte, mit dem, was sie alles hinter sich hatte. Ausgesprochen leutselig unterhielt sie sich mit mir, lachte gerne und redete viel. F�r meine Begriffe war sie "richtig normal“ – jedenfalls nicht so, wie wir sonst alle waren. Sie war ordentlich gekleidet, vielleicht ein bisschen altmodisch, und sogar irgendwie schick. Auf den ersten Blick kam sie mir so vor, wie damals gut integrierte Menschen waren. Nur ihre Bewegungen waren etwas gehemmt, ein bisschen wie in Zeitlupe, ihre Zunge war schwer wie in einem mittleren Alkoholrausch und ihr Blick etwas starr – ein Zeichen daf�r, dass sie Psychopharmaka genommen hatte und dass die ihr zu schaffen machten. Ansonsten hatte sie sich einfach irgendwie voll "im Griff".
Maria’s Geschichte mit der Psychiatrie hatte schon ein Jahr zuvor begonnen. Die erste Unterbringung war durch ihre Eltern zustande gekommen. Dass es ihr manchmal sehr schlecht ging und sie viel Angst auszuhalten hatte, hatte sie ihnen verschwiegen. Aber jetzt hatte sie Zust�nde, die ihr so objektiv vorkamen, dass man dr�ber reden kann. Sie erz�hlte ihnen, dass sie manchmal Stimmen h�ren w�rde. Die Eltern waren entsetzt, packten ihre Tochter und gingen mit ihr zum Hausarzt. Der schrieb gleich eine �berweisung an einen Neurologen und der stellte fest, dass es neurologisch keinen Befund gebe. Er �berwies sie an das Bezirkskrankenhaus Haar, einer psychiatrischen Klinik bei M�nchen – zur "Abkl�rung“. Ein Irrenhaus! Dahin wollte sie nicht. Sie ist doch nicht verr�ckt!
Ihre Eltern dr�ngten sie, dorthin zu gehen. Sie wollten ihre Tochter "wieder gesund haben“. So schlimm k�nne es ja auch nicht sein. Es sei ja immerhin ein Krankenhaus! Dagegen war nichts zu sagen. Es schien einfach vern�nftig. Aber Abkl�ren! Was sollte da klar werden k�nnen? Gab es eine Erkl�rung? Und was dann? Sie konnte es sehen, wie sie wollte: Die Stimmen waren da und das war "nicht normal“ und das wiederum hie� in den Begriffen der �rzte und schlie�lich auch bei ihren Eltern: Krank, psychisch krank. Aber schlie�lich wollte sie ja selbst auch wissen, was da los war und sie litt unter dieser Ungewissheit – und vor allem unter diesen schlimmen Angstzust�nden im Strudel ihrer Wahrnehmungen und Gef�hle. War sie vielleicht wirklich verr�ckt?
Etwas zwiesp�ltig, aber doch voller Hoffnung, dass ihr geholfen werden konnte, ging sie mit zum Bezirkskrankenhaus. Schlie�lich konnte sie ja selbst sagen, was sie dort will. Aber gerade wenn man dort landet, wo man kein Vertrauen hat, da gibt es dann diese Logik des Vertrauens: Besser, du erz�hlst alles selbst, bevor sie dir was unterschieben und am besten so, dass sie es auch verstehen. Also erz�hlte sie den Psychiatern, was die h�ren wollten und wie es ja auch irgendwie war – das hei�t, wie es einem erscheint, wenn man es kurz zusammenfassen soll, damit dem Doktor nicht zu viel Zeit genommen wird. Sie erz�hlte von ihrem "Problem mit dem Stimmenh�ren“ und dass sie manchmal v�llig durcheinander sei und danach so etwas wie "Wahnvorstellungen" h�tte.
Damit war sie in das Diagnose-Schema gefallen. Da wird dann auch nicht mehr lange rumgemacht. Stimmenh�ren, Wahnvorstellungen – alles klar! Schizo ist Schizo. Man sagte ihr bald darauf, dass sie unheilbar krank sei.
Maria war allein im Krankenhaus. Ihre Mutter kam regelm��ig zu Besuch und fragte sie, wie es ihr da ergehe. Maria konnte es ihr nicht antun. Sie konnte nichts dar�ber sagen, wie sie hier eingeordnet wird und dass sie unheilbar krank sei – sie, das Kind einer Frau, der die Gesundheit ihrer Tochter das Wichtigste von der Welt ist. Also erz�hlte sie, dass sie Pillen und Spritzen bek�me. Ihr ging es damit zwar nicht gut, aber Medizin sei ja immer bitter und sie w�rde ihre Pillen deshalb auch brav und regelm��ig nehmen. Immerhin machten die sie ruhiger.
Die machten aber nicht nur das. Sie nahmen ihr alle Kraft. Vielleicht war es dies oder die Selbstbezichtugung und Belastung, als die sie sich f�r ihre Mutter empfand oder die Isolation in der Irrenanstalt oder die vielen Verr�ckten um sie herum oder alles zusammen. Jedenfalls konnte sie das alles nicht mehr ertragen und wollte nicht mehr leben. Nach einer �berdosis Schlaftabletten kam sie auf die geschlossenen Station. Ihr "Fall“ war jetzt auch f�r die Psychiater kompliziert geworden: Sie war ja noch sehr jung und ihre Eltern waren zutiefst besorgt. Sie waren dem Krankenhauspersonal gegen�ber ja auch sehr entgegenkommend, hilfreich und vertrauenerweckend und f�r jeden "guten Rat“ dankbar. Sie dr�ngten aber auch auf eine gute Versorgung ihrer Tochter. Beide waren Beamte, ein "besseres Elternhaus“ also. So wurde sie an das Max-Planck-Institut �berwiesen, das gerade mit einem Forschungsprojekt zur Schizophrenie bei jungen Menschen begonnen hatte.
Von Haar aus gesehen war es ein Aufstieg. Im Max-Planck-Institut ging es etwas gelassener zu als in Haar. Schon die Architektur war ausgesprochen modern – sachgerecht, mit kompletter Video�berwachung auf und vor den Stationen und ums Haus, aber ohne hohe Mauern. Die Pfleger waren nicht nur W�rter, die Schwestern hatten einen medizinischen Standpunkt und waren hierdurch etwas mehr als nur die blo�e Stationswache. Es wurde auch nicht so ma�los medikamentiert, wie in Haar. Die Dosis war geringer, der Stoff derselbe: Haldol und Akineton, dem entsprechenden Mittel gegen die "Begleiterscheinung" von Haldol (Dyskinesien). Jeden Tag 30 Tropfen. Aber immerhin war sie hier weg von Zuhause und hatte "feste W�nde", die ihr keine Angst machten. Dass sie dabei eingesperrt wurde, nahm sie jetzt in Kauf – auch die Medikamente. Sie meinte, dass trotz aller "Nebenwirkungen“ die ihr doch helfen w�rden – zumindest, dass sie es dort aushalten k�nnte. Ich war erstaunt, dass Maria sich derma�en positiv auf eine Hilfe bezog, die ja eigentlich gar keine war und fraglich war, was sie auszuhalten hatte, wenn sie einfach nichts mehr merkt und sp�rt. War es die Erinnerung, dass sie nichts mehr ausgehalten hatte? Wahrscheinlich wollte sie einfach um jeden Preis "von der Krankheit befreit“ werden. Die war das einzige, wovor sie sich wirklich f�rchtete. Ich fand erst sp�ter heraus, dass dies wohl auch ein Teil ihres Problems war: In der Furcht vor ihrer Krankheit verga� sie alles andere, was sie zu f�rchten hatte. Sie hatte viel zu f�rchten, weil ihr vieles fremd war; es war einfach zuviel – besonders, solange sie alleine damit blieb und als einzige "F�rsprecher“ ihre Eltern hatte. Das Entsetzen vor der Psychiatrie war daher inzwischen dem Gef�hl der Unausweichbarkeit gewichen und dadurch gemindert, dass es in der Psychiatrie auch Abstufungen gab. So erschien der Belzebub fast angenehm, solange durch ihn der Teufel ausblieb.
Irgendwann, als sie sich im Medikamenten-Tran "stabilisiert" hatte, wurde sie von der Nervenklinik mit dem Hinweis auf unseren "Club" entlassen. Ich wunderte mich, dass Maria von einer psychiatrischen Klinik zu uns geschickt worden war. Das war neu. Es war erstaunlich, dass das Max-Planck-Institut �berhaupt auf uns aufmerksam geworden war. Sp�ter erfuhr ich, dass das Institut "wissenschaftliche Fortschritte in der Psychiatrie" versuchte und sich der behandelnde Arzt "sozialpsychiatrisch engagierte“ und sich auch mal mit Selbsthilfe befassen wollte. Und so kam er auf uns. In M�nchen gab es ja damals noch nichts vergleichbares.
Wir hatten so etwas �hnliches wie gesellige Abende, den "Jour fixe", und es konnte jeder einfach so vorbeikommen, der sich erstmal allgemein orientieren wollte. Es war der lockere Einstieg. Der andere w�re das B�ro gewesen mit festen Sprechzeiten und einem Gespr�ch zu zweit, ohne andere und mit festem Termin. Maria hatte den geselligen Weg zu uns gew�hlt. Dort und auf den "Tagungen“ entstanden unsere Gespr�che, sp�ter wurden es Spazierg�nge und irgendwann wohnten wir in einer Wohngemeinschaft mit anderen TC-Mitgliedern zusammen und so lernte ich sie nach und nach besser kennen. Es war kein definiertes Verh�ltnis von Betreuer und Betreuter, es ergab sich einfach, wie sich �berall in dem Verein solche Verh�ltnisse ergaben. Aber es war bald klar, dass ich f�r sie ein Ansprechparner bei Schwierigkeiten war – so wie andere eben auch. Erst sp�ter, als wir nicht mehr zusammenwohnten, hatte ich dieses Verh�ltnis als "Betreuungsverh�ltnis“ angesehen und bin von ihr gerufen worden, wenn sie alleine nicht mehr konnte. Sie hatte immer wieder versucht, die Medikamente abzusetzen. Das ging eine Weile gut, kippte aber oft in Angstzust�nde und Wahnvorstellungen wieder um. Es war ihr Programm: Sie wollte davon weg. Deshalb versprach ich ihr auch, zu kommen, wenn sie mich brauchte. Der Gebrauch bestand aus Spazierg�ngen und vielem Reden und Denken. Es war f�r uns beide ok. Und tats�chlich schaffte sie es irgendwann ohne Haldol.
Jene "Krankheit", welche sowohl den �rzten wie auch �berhaupt den Psychiatern als unheilbar galt, nannten sie in ihren Krankenakten "schizoide Psychose mit paranoidem Grundcharakter". Aber diese Bezeichnung wechselte je nach dem Arzt, der sich damit befasste, so dass die Krankheitsurteile der Psychiatrie von ''manisch-depressivem Irresein" �ber "endogene Psychose", "Erotomanie" bis hin zur klassischen Schizophrenie gingen. F�r unheilbar wurden die Zust�nde, die Maria den �rzten schilderte, vor allem deshalb gehalten, weil ihr Auftreten nicht mehr mit "ausl�senden Erlebnissen" verbunden schien und f�r aufgekl�rte �rzte daher von innen her verursacht seien und zudem unverstehbar, weil rational unfassbar galten. Sie entsprachen nicht dem Weltbild der Aufkl�rung, das nur mit Fehlern und Irrt�mern hantieren kann, nicht aber mit wirklichem Anderssein. Als ich mal mit dem Arzt sprach, der Maria behandelte, meinte der, dass das, was man so nicht verstehen k�nne, entweder endogen im Sinne von vererbt oder sp�testens im zweiten Lebensjahr schon vollst�ndig entwickelt sei. Auf jeden Fall sei es, das gelte als "gesichert“, eine "neuronal fixierte“, also k�rperlich zwangsl�ufige Fehlleistung der Nervenzellen. Daher m�sse einleuchten, dass hier urs�chlich nichts mehr zu machen sei. Eben deshalb sei es wichtig, Maria von ihren Problemen her "in Ruhe zu lassen" und ihr bei ihrem "Schicksal" m�glichst hilfreich f�r ihre Alltagsprobleme zur Seite zu stehen. Er sorgte sich offenbar, dass ich ihre "Krankheit“ zu ernst und zu pers�nlich nehmen k�nne oder mir sogar anzuma�en, ich w�rde zu einer solchen Welt des "Spaltungsirreseins“ einen Zugang finden. Auf keinen Fall solle man sich allzu sehr auf sie einlassen. Man gerate sonst leicht in eine Symbiose, die einen selber mit fortrei�en k�nne. Darauf sei die "Krankheit“ angelegt. Das m�sse er mir sagen, wenn ich mich da schon mal einbeziehen gelassen habe. Mit zuviel Einf�hlung schade man au�erdem nicht nur sich, sondern auch ihr. Der K�rper w�rde diese Zust�nde des Wahnsinns verursachen und Maria h�tte keinen m�glichen "Normalzustand der Wahrnehmung“, auf den ich mich beziehen k�nne, auch nicht, wenn sie "normal wirkt“. Wahrscheinlich war das schon immer so, aber niemand habe es bemerkt, bevor "die Krankheit ausgebrochen“ sei. Wo sie st�rend wird, m�sse man sie eben d�mpfen und zusehen, wie sie dabei m�glichst lange, so quasi nebenbei, einer normalen T�tigkeit noch nachgehen k�nne. Fr�her oder sp�ter sei damit wahrscheinlich Schluss, doch bis dahin k�nne sie sich ja vielleicht noch selbst tragen – meint: Ern�hren und in der Arbeit funktionieren (16). Das war der "neueste Stand der Psychiatrie“!
Nun gut, das hei�t:schlecht. Aber ich war ja sowieso in keiner Weise therapeutisch engagiert. Ich glaubte nicht an besondere Einf�hlung oder irgendwelchen therapeutischen Wunderwaffen, nicht an die Psychologie und nicht an Gott – und auch nicht an Psychopharmaka. Ich wollte nur Schlimmeres verhindern und irgenwie wollte ich auch wissen, was mit dieser f�r mich neuen Art von Psychiatrie los ist. Solche Sachlichkeit war ich noch nicht gewohnt, sachlich und total, sachliche Totalit�t. Die Geschichte von Maria sollte mit solchen Antworten nicht zu Ende sein. Da rebellierte alles in mir, auch wenn ich Maria pers�nlich noch gar nicht so richtig kannte. Ich wollte einfach, dass sie nicht soviel von dem Gift schlucken musste und dass sie sich von dieser moderne Form von Totatlit�t nicht einmachen lassen sollte. Voraussetzung daf�r ist, dass sie Zweifel gegen diese Pillen und diese Hilfe entwickelte. Solange sie diese Chemie im K�rper hatte, sah ich keine Chance mehr. Ich hatte schon zu oft mitgekriegt, dass Leute, zu denen ich noch irgendeinen "Draht“ hatte, durch das Chemiezeugs ganz entzogen wurden. Bei Maria w�re es noch schlimmer. Da passt dann doch alles zusammen: Die Gesundheitsvorstellung ihrer Mutter, die Gebrochenheit ihres Lebensmutes, die Technologie der Psychiatrie und die Abstumpfung durch Psychopharmaka – einfach volles Programm, volles Rohr!
F�r Maria war das nat�rlich alles v�llig anders. Sie sah sich gl�cklicherweise noch nicht aus dem Blickwinkel einer objektiv fixierten "Krankheitskarriere", die ihr der Arzt im Sinne einer redlich gemeinten Aufkl�rung �ber ihren Lebensweg vorgestellt hatte, damit sie sich "optimal darauf einstellen k�nne". Schlimm f�r sie war vor allem dieses Todesurteil, die Behauptung, dass ihr nicht zu helfen sei, au�er durch diese schrecklichen Pillen. Sie waren eine gr��ere Pein, als sie anfangs mir gegen�ber eingestand. Und auch ihre scheinbare Ausweglosigkeit war ihr ziemlich klar, doch sie sprach dar�ber einfach nicht. Sie musste damit ja schlie�lich auch wirklich leben k�nnen. Was soll das dr�ber reden? Ich glaube, dass sie einen weit gr��eren Lebensmut und eine gr��ere Kraft hatte, als ich anfangs wahrnahm.
Aber irgendwie glaubte sie auch an die Krankheit, diesem quasi �bersinnlichen Ph�nomen und empfand ihre Zust�nde einerseits wie eine dunkle Macht �ber sich, aber auch nicht ganz so unbegreiflich. Zwar gab es keine im einzelnen faktisch feststellbare Ursache. Aber wo gibt's das �berhaupt, wenn Menschen ihren Gef�hlen unterworfen sind? Wo gibt es bei irgendeinem seelischen Geschehen ein eindeutig urs�chliches Erlebnis im Sinne eines Fakts, dessen Auftreten eindeutige Wirkung haben muss, wie z.B. ein Krankheitserreger f�r bestimmte Erkrankungen? Aber wo kamen sie dann her, diese Wolken, die sich �ber ihre Seele legten, sie verdunkelten, bis nichts mehr zu sehen und zu sp�ren war, sie erstickten, bis sie in diesen uns�glichen Strudel ihrer aufbegehrenden Innenwelten geriet?
Schon die ganz einfache Gef�hlswelt hat keine klaren Anl�sse, denen ebenso klare Gef�hle folgen. Stimmungen �berkommen uns st�ndig, ohne dass wir sie immer aus dem Augenblick und anl�ssliche dieses oder jenes Ereignisses eindeutig erkl�ren k�nnten. Sie kommen oft aus Geschichten und Entwicklungen, die zu irgendeinem Zeitpunkt eine Stimmung ergeben, zum Beispiel, wenn etwas gut gelungen oder etwas voll daneben gegangen ist, zu einem Zeitpunkt also, in dem wir wahrnehmen, was wir wahrhaben.
Alle Gef�hle stehen in einem geistigen Prozess, in dem sie irgendwann als Gef�hl umrissen und klar werden. Sie haben keinen Anlass, sondern eine Bildungsgeschichte, in der viele Moment von Empfindungen sich zusammenfinden, bevor ein Gef�hl entsteht, welches als eine Stimmung verweilen kann. Vorausgehen Empfindungen, die nach und nach wesentlich werden, je mehr sie einen Menschen zu einem bestimmten geistigen Verh�ltnis bringen, zu einem bestimmten Sein seines Geistes in einer Beziehung zur Welt, zum eigenen Leben und zu anderen Menschen. In der Einheit mit seinem Sinn hat sich der Gesit weltlich wahr, wie er auch die Welt wahrhat.
Die Bildungsgeschichte der Gef�hle besteht aus vielen Momenten, in denen alle Sinne Geist finden, sich damit ausf�llen und damit leben – z.B. als Gef�hl f�r Musik, f�r Sch�nheit, f�r Menschen oder einfach als Liebe. Das Gef�hl, egal wie es entstanden ist, durchstr�mt uns und wirkt sich in unserer ganzen Wahrnehmung als Selbstwahrnehmung mit ganz betsimmten Empfindungen f�r andere aus.. Was wir in den Gef�hlen als vergangene und gegenw�rtige Beziehung wahrhaben, das bereitet auch die Grundlage der Empfinungen, mit der wir die Welt oder andere Menschen empfinden, arbeiten, handeln, entscheiden ... leben. Wiewohl das Gef�hl aus Empfindungen entsteht und sie in sich vereint, wird es wiederum zur Grundlage neuer Empfindungen. Es ist der ganze Wahrnehmungsprozess, der sich darin ausdr�ckt, die Einheit der Lebensbedingungen, die wir wahrhaben, und der Empfindung, mit der wir sie Wahnehmen, sie in uns aufnehmen und in uns zusammenf�hren, so wie sie f�r uns wahr sind, unsere Wahrheit sind.
Die Stimmungen, in denen dies in uns verweilen kann, machen den Zustand aus, mit dem wir diese Wahrheit leben, z.B. ob wir uns damit bedr�ngt f�hlen, unruhig werden, oder frei und gelassen oder gl�cklich, durch die Begebenheiten, die sie best�tigen. Gef�hle werden so zu einer Wahrheit unserer Beziehung auf uns selbst, wie sie geworden ist aus unserem bestimmten "In der Welt sein“. Das hat zwar viel damit zu tun, wie wir uns geistig damit befasst haben und befassen – nichts aber mit der Seele, wie das meist verstanden wird. Gef�hle sind die urspr�ngliche Einheit unserer Beziehung auf anderes, durch Empfindung geworden und als gewordene Empfindung hierf�r auch grundlegend, Subjekt ihres geistigen Zusammenhalt, wie immer er sich eingefunden hat.
Dies macht die Stimmungen, die uns dann �bekommen, bei denen wir meist nicht vollst�ndig wissen k�nnen, waraus sie bestehen. Ob man gerade mal die ganze Welt umarmen k�nnen oder ob schwere, bedr�ckende Gef�hle im Vordergrund stehen, das hat alles eine geistige Dimension auf die Geschichte, die damit verbunden ist. In den Stimmungen ist sie als unsere Befindlichkeit wirksam, ohne dass wir das so einfach beeinflussen k�nnen. Es ist bei jedem Menschen so, ob er dem viel Aufmerksamkeit schent oder wenig. Bevor es in ihm weitergreift, hat er in seiner Stimmung ein bestimmtes Verh�ltnis seiner Wahrnehmung zu ihrer Welt, ihren Gegenst�nden. Wieweit die Stimmung sich darin frei l�sst oder als Laune ausleben kann oder kontrolliert, eingeschr�ngt, bedr�ngt oder ignoriert werden muss usw. h�ngt dann von den ganz funktionalen Tagesverh�ltnissen ab. Wir wollen hier nur festhalten, dass eine Stimmung vorausgegangene Empfindungen und Gef�hle enth�lt, die darin ihre geistige Beziehung zu sich selbst und zu anderen Menschen und Ereignissen haben.
Und genau so war es bei Maria: Die Stimmen, die sie manchmal h�rte, entsprachen ganz bestimmten Stimmungen und die entstanden nicht aus heiterem Himmel, sondern aus einem Prozess der Verwirrung, der Unl�sbarkeit von Schwierigkeiten im Verh�ltnis zu anderen Menschen und der Verfinsterung durch Ahnungen und Bedr�ngungen durch �berdimensionale Schuldgef�hle. Die Frage ist doch nicht, ob sie einen Anlass haben oder nicht. Die Frage ist, warum aus Stimmungen Stimmen werden.
Was soll das sein, diese Psychose, von der ihr niemand irgendetwas erkl�ren konnte oder wollte. Was wollten die �rzte, die ihr stattdessen eigentlich nichts anderes �berbrachten als die Aussage: Du hast irgendetwas Ungeheuerliches, das wir zwar ausgiebig beschreiben, einordnen, aufz�hlen, aber nicht verstehen k�nnen. Kurz gesagt: Du bist schizophren! Du bist in dir selbst gespalten und niemand kriegt das wieder zusammen. Deshalb ist dir auch nicht anders zu helfen, als durch Psychopharmaka!
Wollen die wirklich nur das? Wollen sie sagen: Du hast einen k�rperlichen Schaden, da kann man nichts tun, aber wir helfen dir? Ist deses Helfen vielleicht dasselbe, wie der Zynismus: Weil du dich so sehr aufregst, regen wir dich ab? Was bringt einen Arzt dazu, zu sagen, dass er von einem Gebrechen keine Ahnung hat, es nicht mal versteht, um dennoch seine "Therapie“, welche die Auftrennung der Wahrnehmung bis zu ihrer Zerst�rung forttreibt, f�r richtig zu halten? Ist das die "Hilfe“, dass das Organ, mit dem ein Problem versp�rt wird, ausgeschaltet wird? Ist das Psychopharmakon so eine Art totale Schmerztherapie f�r "Krankheiten“, bei denen sowieso nichts mehr zu machen ist? Verabreicht die Psychiatrie vielleicht deshalb die Drogen, welche die Rezeptoren blockieren, nur um ihre Ruhe zu haben, ihre Funktion erf�llt zu haben, sich "drum zu k�mmern“ und ihrer gesundheitspolitischen Aufgabe nachgekommen zu sein, durch welche sie sich finanziert? Oder ist es die Karriere, die gewitzte �rzte dort machen k�nnen, wo sich niemand auskennt?
Solche Hilfe wollte Maria bald nicht mehr. Es war doch irgendwie die Selbe, die ihre Eltern suchten: Gesundheit ohne umzuschauen. Sie befand sich aber immer noch in ihrer Geschichte, umw�lbt von ihrer Herkunft und bedr�ngt von allen, die es nur "gut mit ihr meinten“.
Wenn Symptome ohne einf�hlbaren Grund auftr�ten, dann seien sie eben unverst�ndlich, sagte man ihr. Und wenn sie unverst�ndlich sei, so solle sie sich besser damit abfinden. Es sei halt eine Krankheit, und – Gott sei Dank – g�be es hierf�r ja auch Mittel der "Linderung". Sie glaubte dies manchmal sogar selbst, manchmal war es f�r sie schrecklich. Sie lebte zwischen Resignation, Zweifel und Hoffnung, ob es oder dass es auch zu �ndern w�re. Aber wie sollte sie hierf�r einen Boden finden? Nirgendwo sah sie einen Grund f�r ihre "Zust�nde“. Nichts konnte sie auf sich beziehen, das hierf�r Anlass b�te. Und die Pillen, das sp�rte sie deutlich, schleppten sie nur noch weiter von sich weg. Es gab praktisch niemanden au�er uns, der ihr darin Mut machen wollte, einen Weg ohne Chemie zu suchen. Das bedeutet ja auch immer Verantwortung und Anteilnahme. Und schlie�lich waren die Aufregungen, das Ausrasten und die permanenten Zweifel f�r jeden Beteiligten nicht immer leicht zu ertragen.
Ich bezweifelte erst mal, dass es keine Anl�sse f�r die "Krankheit" geben, wenn keine eindeutigen Ursachen gefunden werden k�nnen. Anl�sse gibt es immer, wenn auch nicht immer so bestimmt, wie es "wissenschaftlichem Denken“ fassbar, weil "operationalisierbar“ ist, vielleicht so wie bei einer H�henangst die H�he oder bei Platzangst die Enge (61). Wie wir schon festgestellt hatten, waren ja bestimmte Stimmungen Anlass f�r die Stimmen, und die entstehen auch nicht von ungef�hr.
So sah das auch Maria. Sie sagte mir, dass nach ganz unbestimmbaren Erlebnissen mit anderen Menschen unbestimmte Gef�hle in ihr hochkommen, durch die sie schnell in einen Wirbel gerate, so, als ob sie sich jetzt gleich verlieren w�rde. Der Wirbel war schwer zu ertragen, voller Angst und Zwiesp�ltigkeit. Manchmal ger�t sie nach diesem Wirbel wie durch ein "schwarzes Loch“ in eine Welt, in der sie sich in enger Beziehung zu den Menschen befand, die in irgendeiner Weise Anla� der unbestimmten Gef�hlslage gewesen waren. Dort war sie ganz bei sich und lebte nach Phasen des Zweifels und der Angst auf. Aber nichts war dann, wie es vorher war; alles, was ihr sonst vertraut, nahm sie nur noch so wahr, als ob es von ganz weit her komme. Und von da her entstanden neue Probleme im Umgang mit den Menschen: Sie sp�rte, dass sie f�r die anderen absonderlich war, dass sie sich auf sie anders beziehen w�rden oder dass irgendetwas anderes nicht stimmen kann (z.B. die Mode).
Einmal war es ihr Nachbar, der sich ihr gegen�ber sonderbar verhalten habe und von dem sie sich bald be�ugt und verfolgt f�hlte. Sie musste t�glich an seinem Haus vorbei und sah ihn immer am Fenster. Wenn sie sich schlecht f�hlte, dann hatte sie Angst, dass er es merken k�nne. In einer Situation, wo sie nicht mehr wusste, ob sie ihre Arbeitssituation durchhalten konnte, nahm sie auch ihre Kolleginnen voller Angst wahr, ob die von ihrer anderen Welt oder ihrer Angst ihnen gegen�ber etwas merken w�rden. Nach einiger Zeit hatte sie dann auch nicht mehr die Kraft, dies auszuhalten. Dann dachte sie, dass es der Nachbar schon wisse. Sie sorgte sich, dass er es herumspreche. Schlie�lich war sie sich sicher, dass alle Menschen es w�ssten. Sie ging daraufhin "freiwillig“ in die Klapse. Und daraufhin wussten es dann auch wirklich ihre Berufkolleginnen und der Nachbar.
Die Anl�sse waren manchmal auch direkter: �fter hatten sie mit Verliebtheiten zu tun, die ihr bei M�nnern hochkamen, denen sie sich eigentlich gar nicht n�hern wollte oder konnte. Die erfuhren davon auch nichts. Maria litt unendliche Liebesqualen und -vorstellungen und hielt sich von allen Gelegenheiten fern, wo eine Begegnung entstehen k�nnte. Sie schloss sich quasi in ihre Gef�hle ein, weil sie deren Verwirklichung und Wirklichkeit f�rchtete. In einer Art Hintergrundgeraune h�rte sie schlie�lich Stimmen, die immer st�rker wurden und sie mit Vorw�rfen qu�lten, sie lobten oder tadelten oder sie auslachten oder sexistische Spr�che klopften.
Wie eine Metaphrase zu dem, was sie f�hlte, h�rte sie Einw�nde, Denunziationen oder Verleumdungen gegen sich oder "ihre Welt“, manchmal auch gegen ihre "N�chsten", wie z.B. Vater, Schwester – sp�ter auch gegen mich. Immer dann, wenn sie in diesen Gef�hlen war, geriet sie in eine Verwirrung, die ihr jegliche Selbstgewissheit wegriss. Daraufhin w�hnte sie hierf�r "Erkl�rungen", in welchen die Au�enwelt wie eine Seele handelnd erschien. Irgendetwas verlangte oder wollte man von ihr, ohne dass zu kl�ren war, was. Es waren manchmal nette Bemerkungen zu dem, was sie gerade tat; meist aber waren es boshafte Stimmen, die sie h�rte, und hinterh�ltige Launen, die gegen sie aktiv wurden, wie sie es f�hlte. Und deshalb musste sie auch aufpassen, dass sie nicht in eine Falle geriet, die ihr von irgendjemand gestellt sein k�nnten, zum Beispiel als Gift im Essen oder in den Zigaretten.
Die Falle enthielt unheimliche Dimensionen. Aber die blieben auch f�r sie nur theoretisch. Sie f�rchtete sich davor, glaubte aber nicht an ihre Tatsache. Sie erschienen ihr aus ihrem Wahn heraus dann irgendwann "logisch“, oft auch mit der dann geschw�chten Sensorik verbunden (z.B. war ihr Geschmacksinn in den Zeiten des Wahns wirklich anders, und folglich war sie auch unsicher, ob etwas "nach Gift“ schmecken k�nnte oder nicht). War es zuerst nur der b�se Blick eines Nachbarn oder eine schr�ge Bemerkung des Brieftr�gers, so war es bald schon ein gro�es Umfeld ihres Alltags, irgendwann fast die ganze Welt, fast alle Menschen, die ihr misstrauten und sich von ihr abwandten – bis auf die, die mit ihrer Welt noch verbunden waren, weil sie sich mit ihnen noch verbunden f�hlte. Zugleich bildeten sich in ihr Verbindungen zu anderen Menschen ihres Vertrauens, die sich in ihrem Kopf unentwegt mit ihr besch�ftigten, sich um sie sorgten und f�r die sie "keine Belastung" sein wollte. Ihre sonst sehr klaren Empfindungen waren wie weggesperrt.
Empfindungen machen die Gewissheit einer Wahrnehmung aus, die Wahrnehmungsidentit�t. Diese verlangt die �bereinstimmung aller Wahrnehmungen in den Organen und den Sinnen. Und die sind nur solange eindeutig, solange sie �u�eres und Inneres gleicherma�en anerkennen k�nnen. Werden sie durch Gef�hle �berlagert, so werden sie durch eine Notwendigkeit bestimmt, durch die sie bedr�ngt oder best�rmt oder gezwungen oder aufgesogen werden. Beherrschen die Gef�hle die Wahrnehmung vollst�ndig, so sind Empfindungen nur als Gef�hle wahr, also von ihnen ununterschieden und ununterscheidbar. Auf diese Weise gelangen die Wahrnehmungen ungebrochen in den Menschen, der sie nicht mehr in seine Gef�hle einbeziehen kann, weil und solange sein Geist durch die Macht und Kraft der Gef�hle gegen die Empfindungen versagt. Es ist oft ein Leichtes, dies zu �ndern. Manchmal gen�gt schon ein Ortswechsel.
Maria hatte in solchen Zust�nden ihr Leben nur noch in sich selbst wahr, und das str�mte �ber vor Gef�hlen, die sie beherrschten. So etwa muss ein Mensch seine Beziehungen und die Welt empfinden, wenn er im Gef�ngnis, in vollst�ndiger Isolation lebt. So grausam ihr Gef�ngnis war, es kam mir dennoch irgendwie wie eine Art Schutzhaft vor, eine Gewissheit, die sein musste, damit sie wenigstens in ihrem eingegrenzten Raum noch irgendwie da ist. Sie brauchte einfach "dicke Mauern“, um sich nicht ganz zu verlieren; – so verstand ich das. Das "Sich Verlieren" war in meiner Vorstellung von ihren Gef�hlen immer gegenw�rtig, ohne dass ich es konkret h�tte beschreiben k�nnen. Es war vielleicht wie ein Absturz von allem, was sie war, wenn sie auf ihrem Trapez am Hochseil der Menschenliebe ihre Kraft verlor. Dort waren alle Erwartungen und Gef�hle gespannt und der kleinste Fehler, die kleinste Zuckung konnte zum Absturz f�hrte. Und vom Gef�ngnis aus ist das Hochseil nicht erreichbar. Dort konnte sie "Zucken“, wie sie wollte, ohne zu st�rzen und ohne sich zu vergessen – ohne sich zu verlieren.
Aber wie kann ein Mensch sich verlieren? Wie kann er sich finden? Woher kam die Kraft, die ihre Empfindungen wegdr�ngte? Ich wei�, dass das, was ich kenne und das, was mir jemand von sich erz�hlt, nicht unbedingt viel mit einander zu tun hat. Aber dennoch bin ich auf meine Kenntnisse und die Sprache angewiesen, weil sie die einzige Br�cke der Verst�ndigung in Situationen sind, in denen die Welten weit voneinander entfernt sind (62).
Ich versuchte daher zuerst, den Zustand, �ber den mir jemand berichtete, mir erkl�rlich zu machen aus Erfahrung und Wissen einerseits, das ich in meinem Leben gewonnen hatte, und andererseits durch eine logische Analogie im Ablauf der Gef�hle und Stimmungen, durch die ich m�glichen Begr�ndungen schlussfolgernd nachging. Ich konnte ja nur �ber Br�cken einen Zugang zum Leben anderer Menschen finden, und zwar meist einen theoretischen, also vorgestellten, spekulierten oder auch zum Teil mit Hilfe von Nachempfindungen aus ganz anderen Lebenszusammenh�ngen oder durch die dialektische Schlussfolgerung: Was kann das sein, das sich in diesem oder jenem Gef�hl an Empfindung reflektiert? In welcher Situation muss ein Mensch sein, dass er sich so f�hlt? Oder: Aus welchen ganz gew�hnlichen Gef�hlen heraus l�sst sich eine Verr�cktheit, eine Verr�ckung von Gef�hlen "nachempfinden“? Und warum werden die dann verr�ckt? Nat�rlich muss das nicht gleich "die Wahrheit" sein, die damit festgestellt werden kann, aber es ist eine Methode des Herangehens an Zust�nde von Menschen, wie sie berichtet werden. Denn f�r sich sind diese ja zu und die Menschen sind in einer Situation, in der sie Hilfe suchen, weil sie alleine damit nicht weiter kommen. Wie sonst sollte man einen Zustand �ffnen k�nnen? Die Identifikation eigener Wahrnehmung mit den Zust�nden selbst halte ich auf jeden Fall f�r genauso falsch, wie das "�bertragen" von Gef�hlen und die Analyse des �bertragenen. Da gibt es immer zu viele Zutr�ger und Abtr�ger. Psychoanalyse ist ein unendlicher Regress in eine vergemeinschaftete Vorstellung von einer Seele als einem verheimlichten Kollektiv-Ego im Leben wie im Tod, Seelengemeinschaft mit beschr�nkter Haftung. Das wollte ich auf gar keinen Fall betreiben. Das hatte ich an eigener Seel schon zu gr�ndlich erfahren (vergl. "Der Gr��enwahn frisst seine Kinder“ – unver�ffentlicht, in Arbeit).
Kein Mensch kann sich wirklich und vollst�ndig mit einem anderen vergleichen oder gleichsetzen, weder im Gef�hl noch im Verstand, weder in seiner Lust, noch in seiner Realit�t (schon die Begriffe von Lust und Realit�t sind mindestens so vieldeutig, wie es Philosophie hierzu gibt – und wie komplex muss dann die Vorstellung von einem "Unbewussten“ oder einer "Verdr�ngung“ sein, die sich hieraus ergeben und speisen soll?! – vergl. "Zur Kritik der Freud’schen Psychoanalyse“). Letztlich versteht man doch nur das, was hiervon gegenst�ndlich ist, Situationen oder Lebenslagen, die allgemeiner sind oder was man f�hlen oder wor�ber man sprechen kann, was man aus bestimmten Zusammenh�ngen nachvollziehen kann oder was sich als Hintersinn logisch erkl�rlich macht. Angesichts eines Bildes, vor dem zwei Menschen stehen, werden sie sich sehr viel genauer besprechen k�nnen, als �ber irgendeine Geschichte, in der derselbe Gestus erz�hlt wird. Eigentlich verkehrt man immer irgendwie objektiv miteinander, auch wenn es um h�chst subjektive Ereignisse gehen mag. Ich n�here mich deshalb eigentlich vorwiegend denkend den Problemen von anderen, aber zugleich habe ich auch ein "Erfahrungspotential". Von diesem gehe ich allerdings immer zuerst aus.
Aus meiner Erfahrung kannte ich solche Prozesse der Selbstentfremdung nicht als Untergehen oder Verschwinden, sondern nur als Selbstaufl�sung, als scheinbar v�llig grundloser, schlagartiger Verlust jeder Selbstgewissheit, die sich in scheu�lichen Gef�hlen abspielt wie eine bodenlose Selbstverfl�chtigung. Es ist keine "�berflutung“, wie Angstzust�nde in der Psychoanalyse gedacht werden, sondern ein endloser Fall in eine vollkommene Empfindungslosigkeit, die sich in einem ebenso unbestimmten Angstgef�hl zusammenschn�rt – eigentlich muss man sagen: Sich in der Enge unendlich ausweitet. In diese Art von vollst�ndiger und panischer Ungewissheit kann man st�rzen, wenn alle Empfindungen sich zugleich aufheben, sich ausschlie�en und den sinnlichen "Nabel zur Welt" in Nichts aufl�sen. Die Angst, die dabei entsteht, dreht sich in einer Selbstaufl�sung durch und ist ununterscheidbare Identit�tsangst. Sie wird dabei so unb�ndig, dass es in solchen Zust�nden nur darum gehen kann, etwas zu empfinden, wieder an irgendeine Empfindung zu kommen, um aus dem "freien Fall“ herauszukommen. Du tust dann alles, damit du wieder "da“ bist. Manche schneiden sich die Haut ein, andere rasen wie bl�d durch die Welt, und manchmal hilft auch schon, sich einfach mit Musik so lange zu bedr�hnen, bis sie "ankommt“.
Ich hatte damals die Vorstellung, so etwas wie eine "Psychose" zu bekommen, einen Wahrnehmungszustand ohne irgendeine Gewissheit, der von einer wie objektiv wirkenden Kraft ohne einen sp�rbaren Anlass ausgel�st wird und aus dem ich nicht mehr herausfinden w�rde. Ich bekam sie nicht, weil ich relativ schnell und einfach die ausl�senden Empfindungen verstehen lernte. Es war in der Zeit eines wesentlichen Umbruchs in meinem Leben, wie auch in meiner politischen und kulturellen Szene. Ich war damals rundum tief verunsichert und f�hlte mich unter vertrauten Menschen pl�tzlich v�llig absurd, wie in einem Film oder auf einem anderen Stern. Eine grundlegende Gewissheit meiner Beziehung zu ihnen war schlagartig aufgehoben, wie "fortgeblasen“. Erst �ber den Verstand begriff ich, dass der Sinn dieser Beziehungen ja wirklich aufgehoben war, weil die Gemeinschaft zur Fremdheit, die Solidarit�t zu individualisierten Machtk�mpfen wurde. Ich hatte einfach noch nicht begriffen, wieso und wozu, und wollte es einfach nicht wahrhaben ... und war bei meinen "alten Gef�hlen“ geblieben. Warum das alles geschah, war mir ja auch wirklich entgangen. Irgendwie wurde pl�tzlich anders gedacht; das alte Vertrauen war sinnlos geworden, das Verhalten der anderen ungewiss. Aber ich f�hlte mich ihrer nach wie vor gewiss, eben weil meine Gewissheit sich nicht ver�ndert hatte und die anderen daher f�r mich diesselben geblieben waren, freilich nicht mehr in allen ihren Eigenschaften. So verlor sich mein Vertrauen schockartig in den Gef�hlen, als f�r mich sp�rbar wurde, dass sie ganz wesentlich anders geworden waren. Es war so eine Art unbewusster Kulturwechsel, den ich bei diesen Freunden oder Freundinnen nicht f�r m�glich gehalten hatte, der Sinn und Zweck der Begegnung war grundlegend ver�ndert. Bis dahin hatten wir unsere Welt- und Lebensvorstellungen noch in unserer politischen Haltung zum Ausdruck und zum Inhalt vieler Zusammenk�nfte und oft auch zur Br�cke unserer pers�nlichen Beziehung gemacht. Jetzt waren sie mir schlagartig fremd, so v�llig anders, als ich sie kannte: Die Frauen zogen sich pl�tzlich schick an, machten auf Rolle und Barock; die M�nner wollten wieder tolle Hechte sein, prahlten mit ihren Hintersinnigkeiten und Arroganzen. Ich verstand nichts mehr oder besser: Ich empfand, dass ich nichts mehr f�r sie f�hlte, und hatte alles Erleben selbst als Gef�hl gegen mich, ohne eigenes Leben dagegen halten zu k�nnen. Ich kam mir unglaublich dumm, naiv und t�richt vor. Ich konnte weder zu mir stehen, noch mit den anderen irgendwie klarer werden oder sonst wie weiter kommen. F�r sie war etwas einfach so vorbei, ohne dass es der Rede lohnte – oder besser: ohne dar�ber reden zu wollen oder zu k�nnen. Ich war wie in einer Zeitmaschine versetzt, obwohl sich doch nur eines ereignet hatte: Die anderen waren es leid, so weiter zu denken, zu f�hlen, zu kleiden, zu sein, wie sie bis dahin waren. Ich konnte dass nicht, weil ich mein Leben zu meinem Grund hatte. Sie hatten ihr bisheriges Leben wie eine falsche �bung abbrechen k�nnen, ich wurde derweil ihnen entr�ckt. Mein "Ausflippen“ war also v�llig "normal“. In jeder Geschichte wird es so was �hnliches geben. Die Beziehungen rei�en oft so schlagartig ab, wie sich Existenzen wecheln und auswechseln, Vertrautes fremd und Fremdheit vertraut wird.
So gesehen ist eben auch jede "Psychose“ ein ganz normales Durchgangsstadium in der Geschichte, die wir in unserer Kultur haben und durchmachen m�ssen. Es ist ein Ortswechsel, f�r den es keinen Ort und keine Wahrnehmung gibt, bis auf ein Gef�hl unfassbarer Hintersinnigkeit, das sich erst so nach und nach durchdringen l�sst und das oft das ganze Leben bestimmt. Was l�sst den Sinn auf Dauer so hartn�ckig sein, der im Wahnsinn erscheint, was macht ihn so systematisch, in diesem Sinneschaos so regelhaft? Und was verleiht ihm die Macht und schlie�lich auch die Gewalt gegen die ganze Wahrnehmung?
Psychiater wollen das meist gar nicht mehr als menschliches Ph�nomen erkl�ren, sondern weichen schnell in naturwissenschaftliche Abstraktionen und Kategorien. Ob es dabei "Schizokokken“, genetische Faktoren Ver�nderungen im Hormonhaushalt oder auch Stoffwechselst�rungen vorfinden oder vermuten oder das Geschehen mit nichtssagenden Begriffen abtun (vielleicht eine "Borderline“-Psychose oder eine Panikattacke), ist gleichg�ltig. Immer weisen sie dabei den Menschen ab – nicht nur den betroffenen, sondern den Menschen �berhaupt. Seltsame Beobachtungen werden hierf�r zum "Beweis“ herangezogen: Triviale Ver�nderungen des Zuckerstoffwechsels oder des Adrenalinspiegels werden daf�r hergenommen, als Ursache zu gelten, wovon sie vielleicht nur Wirkung oder Erscheinung sind. Familiengeschichte wird zum genetischen Beweismittel, das immer als Erbfolgeerkl�rung taugt, was genauso sozial oder seelisch aus dem Lebensraum Familie erkl�rlich ist. Die Begriffe verraten das Erkenntnisinteresse. Ein Verhaltentherapeut nennt es frei flottierende Angst. Ein analytisch orientierter Psychologe, besonders die Ich-Psychologen, w�rde sagen, das sei ein Produkt symbiotischer Verh�ltnisse, wenn sie "aufbrechen“, wenn sie zu einem narzi�tischen Loyalit�tskonflikt werden. Auf die "Erkenntnisse“ von Psychiatrie und Psychologie kann man wirklich schei�en! Was verstehen sie vom Erkennen, Erforschen, Erfahren entfremdeter Lebensverh�ltnisse? Sie zeigen dir doch vorwiegend nur, wie sie dich verstehen: Als Objekt ihrer Selbstbeziehung. Ein Irrer in der Psychiatrie von Venedig hatte das v�llig anders gesehen: "Das sind alles die alten Sachen vom heiligen Franz“ (Zehentbauer 1983, S. 8). Wer mit den V�geln spricht, der wei� es anders.
Wie muss es einem Menschen ergehen, der nichts mehr von seinen Beziehungen wei�, weil er aus jener Welt schon l�nger und vollst�ndig heraus ist, der nichts mehr hiervon erkennen kann, weil keine Zusammenh�nge mehr gegenw�rtig sind oder weil er oder sie die nie gehabt hatte, au�er in der eigenen Familie? Von daher versuchte ich mir Marias Situation vorzustellen. Ist es vielleicht so, dass sie die Stimmen vor dieser "Identit�tsangst" bewahrten, weil sie sonst gar nicht mehr da herauskommen konnte? Haben sie vielleicht die Bedeutung eines inneren R�ckhalts, eine Art Gewissen, wo Gewissheit fehlt?
Die Stimmen bildeten sich in Maria aus einem umfassenden Gef�hl von Ungewissheit heraus, einem Geraune ungewisser Regungen, die sie von Empfindungen wegdr�ngten, die ihr ansonsten gewiss waren. Vielleicht ist dies anfangs so, wie es auch sonst ist, wenn man etwas h�rt, weil man drauf wartet – z.B. die T�rglocke oder das Telefon – und sich dabei st�ndig in der Wahrnehmung t�uscht (war das jetzt Radio oder T�r oder gar nichts?). Man ist in einer Lauschhaltung, die durch andere Ger�usche der Welt nur gest�rt wird. In dieser hohen innerne Aufmerksamkeit und dem Interesse, alle andere Wahrnehmungen abzud�mpfen, wird die eigene Stimmung auf etwas gerichtet, was als Inneres (z.B. Erwartung) auf v�llig bestimmtes �u�eres zielt (Eintreffendes Ereignis). In solchen immer st�rker werdenden Stimmungen hinein kamen mit zunehmender Erregung Stimmen zu Wort, die ihr Gutes wie B�ses, Botschaften und Meinungen �ber sie, zutrugen. Nach einer Zeit der Beunruhigung �ber solche Wahrnehmungen schien es mir so, dass sie hier�ber erleichtert war, so, als ob sie auch die Botschaften dieser anderen Dimension n�tig h�tte.
Sie waren erst mal ununterscheidbar, ein Zustand v�lliger Ungewissheit und voller Zweifel �ber das eigene Erkenntnisverm�gen. Ob sie von au�en oder innen kamen, war anfangs nicht mal auszumachen. Unmittelbar, also als Stimmen, die Maria h�rte, machten sie ihr keine Angst. Angst machte die Ungewissheit, der Sinneszweifel, ob sie jetzt verr�ckt ist oder nicht, der Kampf um die Wahrheit ihrer Wahrnehmung, hinter der auch allemal Existenzangst stand, die Angst, sozial und beruflich ins Abseits zu geraten. Aber bald wurde das von den Stimmen selbst entschieden. Sie wurden immer bestimmter und schienen immer mehr aus den Ecken, Winkeln oder von anderen R�umen zu kommen.
Zun�chst reichte die �berpr�fung mit Augen und Tastsinn, um sie zu verscheuchen. In dieser "�bergangszeit" wurde ich mit Wahrheitsfragen �bersch�ttet. Es war oft schwer, eine richtige Antwort zu geben. Ich h�tte sie in ihre Isolation tiefer rein getrieben, wenn ich meine Antworten nur auf meine Wahrnehmung hin gegeben h�tte, als Aufkl�rer und Ma�stab von Wahrheit. Es w�re praktisch eine Frage meiner Sensorik geworden, was f�r sie als wahr zu gelten hat. Das w�re fatal f�r sie. Zugleich musste ich aber auch die Wahrheit sagen, n�mlich, dass ich eine andere Wahrnehmung hatte, als sie. Und so versuchte ich, mich auf den Inhalt dessen, was die Stimmen sagten, zu konzentrieren und ihr die Wahrheitsfrage daran zu relativieren, z.B. dass ich mir vorstellen k�nnte, dass hinter diesem oder jenem Gem�uer dies oder jenes geredet w�rde, dass ich aber nichts h�ren k�nnte. Es gab ja dabei auch immer eine stimmungsm��ige, �sthetische Entsprechung – z.B. eine miefige Grundstimmung zwischen uns, die sie dann als Vorwurf gegen sich h�rte, sie sei zu langweilig o.�. Es war, als ob sie schutzlos den Gef�hlen ausgesetzt war, die "in der Luft lagen“, die es quasi objektiv gab, und die sie wie eine innnere Gewalt sp�rte. In ihr hatten sie Macht �ber sie. Woher kann das kommen? Kam es aus einer Spaltung in ihr oder einer Trennung zwischen ihr und anderen? Oder war es die Macht der Trennung selbst?
Vom dialektischen Denken her kann Macht sich nur aus der Getrenntheit ergeben, wenn die Gegens�tze noch im Widerspruch verharren, weil sie f�reinander unentbehrlich sind. Macht ergibt sich aus der Notwendigkeit des Zusammenseins von Gegens�tzlichem. Alles, was das Auseinanderstrebende, das sich in Freiheit aufl�sen w�rde, wenn es sein Ziel erreicht h�tte, zur�ckf�hrt auf seine Not und was sich hierdurch als notwendig herausstellt, hat Macht. Solange die Menschen ihre Getrenntheiten in sich tragen oder au�er sich leben, solange sie sich nicht mit sich verbinden, sondern ihre Widerspr�che ausleben und forttreiben, befinden sie sich auch notwendig in einem Zustand der Selbstentfremdung, eine Notwendigkeit, in der sie auch nicht f�r sich sein zu k�nnen. Machtkampf ist der Streit um die Meisterschaft im Widerspruch – er kann ihn aufheben, indem er sich in einem Sinn aufhebt, der Zusammenhang erkennt, oder er hebt sich auf, indem sich einer der Gegner als unn�tig erweist. Niemals jedoch wird er im Kampf auf �berstehen oder Untergehen, Leben oder Tod, �berleben oder Absterben entschieden sein. Er wird seinen Sinn wechseln, seine Form �ndern, seine Erscheinung wesentlich machen usw. Aber er wird fortbestehen, solange der Widerspruch fortbesteht, der ihn begr�ndet hat. Die Dialektik, das allgemeine Wissen der Selbstentfremdung, ist nur deshalb in ihren Erkenntnissen so tief und erfolgreich, weil sie diese lebendige Fortdauer t�dlicher Verh�ltnise begriffen hat.
Die Stimmen beherrschten Maria wie ein Subjekt, das �ber ihrer Welt steht, in der sie sich nicht mal verstecken konnte, weil sie allem immer zugleich ausgesetzt war, ohne einen Winkel f�r sich zu haben. Die Stimmen waren das, "was in der Luft“ lag, ohne in der Wahrnehmung zu sein. Es war etwas, was sie wahr hatte, ohne es wahr zu nehmen. Kehrt man das um, kann man es als Refelxion betrachten: Was "in der Luft“ lag, nahm sie wahr. Oder besser noch: Sie nahm als Wahrheit, was nur in der Luft f�r sie sein konnte. In der Luft war sie bei sich, war sie zu Hause. Die Luft war ihr Zuhause. Wenn man sich eine dialektische Negation erlaubt, darf man feststellen: Zuhause war alles Luft.
Nun gut: Erst mal ist so ein Reflektieren einfach Spekulation; allerdings eine negativ und �ber den Wortgebrauch der Sprache vollst�ndig bestimmte Reflexion. Oft hilft dies weiter, zumindets um die richtigen Fragen zu finden, denn die Sprache hat eine lange Geschichte und �bertr�gt in ihren Worten und Begriffen sehr viel Gewohnheit und menschliches Wissen. Warum dies so ist, was sie an Wissen hat, bleibt damit nat�rlich noch lange im Dunkel.
Manchmal hatten sich die Stimmen f�r Maria auch durch ganz allgemeine �sthetische Tatsachen eingefunden. �fter mal hat sie auf einen bestimmten Architekturstil mit Stimmen reagiert, die sie hinter der H�userfassade reden h�rte. Deshalb versuchte ich auch mal, mit ihr �ber objektivierte Gef�hle, �ber �sthetik, Kunst und Wohnen zu reden, also dar�ber, wie der Stil eines Hauses oder einer Wohneinrichtung die Menschen darin bestimmen kann. Waren Baustile nicht vielleicht sogar Zeugnis eines bestimmten Lebens oder Botschafter �ber die Erzeugung von Stimmungen? Der Inhalt ihrer Stimmung entsprach ja auch wirklich den Botschaften, die eine bestimmte Hausathmosph�re ausstr�men kann. Es war meist eine Architektur-�sthetik der 30ger Jahre. Kann es sein, dass die Anordnung der Zimmer, die Art des Treppenhauses, der Zugang zu Keller und Speicher, auch Leben transportieren oder ihre Bestimmung in unsere Tage forttreiben, indem wir in solchen H�usern uns genauso f�hlen und fortbewegen m�ssen, wie die Menschen von Damals? Was also war damals, dass es an oder in einem Haus gef�hlt wird, als w�re Maria dort zu Hause? Und: Warum so verborgen, – warum nicht als Gef�hl oder Stimmung, sondern als Stimme?
Solange wir in der Wohngemeinschaft zusammen waren, waren die Stimmen oft auch inhaltlich mit Ereignissen verkn�pft, die zwischen uns wirklich irgendwie offen geblieben waren. Was also noch ungel�st war und einfach noch mal zu berichten gewesen w�re, was diese oder jene �u�erung gemeint hatte wurde in Krisenphasen bei ihr schnell zu einem Geraune, dem sie sich unterlegen f�hlte. Erst nachdem sie es in ihren Stimmen "nach innen verkehrt hatte" entdeckten wir das. Und wenn die Krise und die daruf folgende Entfremdung nicht allzu fortgeschritten war, so lie� sie sich auch noch zur�ckholen. Manchmal ging es um einfache Missverst�ndnisse, die Angst um den Erhalt der Zuneigung enthielten, oder sogar um Wortverst�ndnis, das in seiner situativen Bedeutung unsicher wurde (z.B. "Auseinandersetzen" als "weiter weg sitzen", "sich voneinander entfernen“ oder "diskutieren"). So ungewiss sie sich ihrer Wahrnehmung war, so unklar waren dann auch die Bedeutungen der S�tze und W�rter. Nach solchen Gespr�chen, in denen Meinung und Bedeutung des Gesagten noch mal gekl�rt werden konnte, ging es ihr wieder gut, weil sie den Ablauf und das Gemeinte wieder auseinanderhalten konnte, ihr Misstrauen sich als unbegr�ndet erwies und �ber das Sprechen wieder Kontakt und Vertrauen zu uns m�glich und ihre Wahrnehmung wieder wie die unsrige war. Wichtig war dabei nicht, dass wir dann alle diesselbe Wahrnehmung gehabt h�tten, sondern dass der Absturz in ein bodenloses Misstrauen immer auch ein furchtbarer und qu�lender Selbstverlust ist, wenn die Einsamkeit keinen Grund finden kann, wenn also die Trennung von den anderen nicht wirklich begr�ndet ist. Oft konnten wir das Geraune damit auch wirklich f�r l�ngere Zeit abfangen. Das war dann das Wichtigste, auch wenn es sie vielleicht nicht wirklich "weiter brachte", weil sie eben auch "wo anders“ oder auch "wer anderes“ war. Es waren vielleicht nur wichtige Pausen im qu�lenden W�hnen, Ruhe im Sturm der Verfremdungen, ein echtes Fremdsein ohne entfremdet zu sein.
Je l�nger Maria mit ihren Stimmungen alleine war, desto heftiger und unnachgiebiger wurden die Stimmen und desto mehr kippte diese anf�ngliche Verunsicherung �ber den Ursprung ihrer Wahrnehmungen, ob die also von au�en oder von innen kamen, ob sie wahr oder unwahr waren, um. Es entstand eine "andere Wahrheit", die in wenigen Tagen oder Stunden zu einer Welt wurde, in welcher die Stimmen Wirklichkeit waren, Wirklichkeit der Wahrheit, welche nur noch die Sprecher der Stimmen aussprachen, Kommentare zu ihren Gef�hlen, die keine Welt mehr hatten, au�er in ihr.
Was urspr�nglich ein Gerede im Hintergrund war, war dann f�r Maria im Verlauf des Stimmungsstrudels best�ndige Umwelt und Wirklichkeit: Sie h�rte nicht nur Dem�tigungen, sondern f�hlte sich wirklich gedem�tigt durch vermeintliche Handlungen anderer Menschen, wie z.B. ihrem Vermieter, dessen Blick ihr bedeutete, dass er sie beobachten lie� und dessen Grinsen f�r sie H�me war; sie f�hlte sich nicht nur beobachtet, sondern war es in ihrer gesamten Wirklichkeit. Die Welt wurde zu einem perfiden Beobachtungssystem, worin sie das ausschlie�liche Objekt war. �berall, auch in ihrer eigenen Wahrnehmung oder an ihrem Arbeitsplatz, wusste sie sich von Fernsehkameras und Wanzen �berwacht – oder sie f�rchtete es oder wu�te es nicht, aber sp�rte es. Und auch die Zeitungen, worin �ber sie geschrieben wurde, ohne dass man ihren Namen nannte, wurden ihr am Kiosk vorenthalten. Sie galt sich als der Mittelpunkt einer ungeheuerlichen Verfolgungskampagne.
Meist war bei solchen Wahrnehmungswelten ihr Geschmackssinn auch wirklich ver�ndert. Die Zigaretten empfand sie vergiftet, aber gerade dann musste sie mehr rauchen. Oft schmeckte ihr das Essen sonderbar, so dass sie auch hier dachte, dass ihr jemand etwas rein getan hatte, jemand, den sie nirgends ausfindig machen konnte, den sie mal in einer Person ihrer n�heren Umgebung zu erkennen glaubte, mal �berhaupt nicht kennen wollte. Wenn ihre W�hnungen durch Liebesgef�hle entstanden waren, schien ihr diese Beziehung bereits erf�llt und in der von ihr vorgestellten Konsequenz verwirklicht. Manchmal war sie dann z.B. die Frau ihres ehemaligen Psychotherapeuten oder eines Psychologiedozenten oder eine Ehefrau mit zwei Kindern oder eine von der Welt irregef�hrte Ehegattin, die in einer Zeit lebt, die zwei Jahre weiter war als die Gegenwart. Dass die Zeitungen dann ein falsches Datum druckten, war Teil der Hatz gegen sie und bedr�ngte sie fortw�hrend und machte ihr best�ndig Angst. Sie wusste ja nie, was als n�chstes geschehen w�rde.
Dass es m�glich ist, sich in der Zeit zu irren, war f�r mich das schwierigste Problem, also das, was ich am schwersten begreifen konnte. Wie kann ein Mensch zu der �berzeugung gelangen, dass er in seinem Zeitgef�hl sich sicher ist und dass das �ffentlich verbreitete Datum eine L�ge sein muss? Nat�rlich tut sich ein Psychologe oder eine Psychologin damit nicht so schwer. F�r ihn oder sie ist ja klar was wahr und was unwahr ist und dass das subjektive Zeitgef�hl selbstverst�ndlich unwahr ist, wenn das �ffentliche ihm widerspricht. Wahr ist die psycho-logische Wahrnehmung, weil sie ja alles wahrnimmt, was sie wahrhat, was so �ffentlich wie privat ist. Wahrheit ist f�r die Psychologie nicht mehr im Zweifel, weil sie ihren Zweifel in ihrer Wahrnehmung vom Menschen aufgehoben hat. Oft ist das ja gerade der Grund, sich mit Psychologie zu befassen. Erst am Wahnsinn scheiden sich nicht nur die Geister, sondern auch die Welten (22). Dass er sogar in der Lage ist, die Zeit "zu �berholen“, das macht etwas Wesentliches kenntlich, an dem man leicht vorbeigeht: Die Zeitlosigkeit der Seele, ihre vollkommene Geschichtslosigkeit (23).
Maria lebte mit einer Wahrheit, die au�er ihr nicht war, die andere Menschen nicht teilen konnten, weil sie keinerlei Gegenst�ndlichkeit hatte und sich daher keine Beziehung hier�ber ergeben konnte (24). Die Isolation solcher Wahrheiten ist f�r die Empfindung das schlimmste Problem, weil sie die Geschichte umkehrt. In ihr gerinnt der Geist zu einem Sinn, der keinen Sinn mehr au�er sich hat, der seinen K�rper aufgibt, weil er f�r sich sein muss. Vor allem diese isolierte Wahrheit treibt das W�hnen zum Wahnsinn, indem sie aus dem Sinn einer Geschichte den Unsinn eines Zustands macht. Welchen Grund eine Geschichte hierzu hat, ist hierdurch nat�rlich nicht begriffen. Aber eines geht hieraus schon klar hervor: Die seelische Isolation ist der eigentliche Kern der Verr�cktheit, weil sie eben keinen anderen Sinn hat, als den, dass etwas bei sich bleibt, was eigentlich au�er sich ist. Alle Entwicklung aus dem Wahnsinn kann nur in der Durchbrechung der seelischen Isolation geschehen (25). Nur wo Br�cken, R�ume oder Ausbr�che der Seele m�glich werden, wird sie sich wieder einfinden. Ohne dies bleibt sie verstockt am Boden ihrer Gefangenschaft. Und solange ihre Logik die Geschichte bestimmt, wird auch keine eigene Geschichte f�r den betroffenen Menschen entstehen. Grundlegend f�r jeden Schritt kann also nur der Ort sein, wo Seelisches seinen Raum bekommt. Es geht nicht darum, wie einf�hlsam oder lieb sich Menschen hierzu verhalten. Es gibt weder ein Vorbild noch gibt es hierbei eine wirkliche Hilfe, eine Probleml�sung oder die Aufl�sung von Widerspr�chen. Es gibt hier nichts, was eigene Wahrheit erzeugen oder aufl�sen k�nnte. Was hier fehlt, ist ein Raum f�r die Seele, der jenseits des Wahnsinns nicht mehr anwesend ist. Er aber kann nur aus Menschen bestehen und er existiert menschlich nur in Verh�ltnissen, in denen sie geistig da sind (26). Es ist im Kleinen wie im Gro�en: Eine Gesellschaft, in der die Menschen ihre Kultur wie ihre Sachwelt wirklich als ihre Welt leben k�nnen, als Welt ihrer Bed�rfnisse und ihrer Arbeit, wird keinen Wahnsinn hervorrufen. Und wie im Gro�en, muss man dem Verstocken des Geistes auch im Kleinen auf die Spur kommen.
Die Wahrheiten, mit denen Maria leben musste, enthielten einen Sinn, der dem entsprach, was f�r einen anderen Menschen eine augenblickliche Fantasie oder ein Traum gewesen w�re. Sie fand ja dann auch fast keinen Schlaf. Ich nahm daher auch an, dass ihre Fantasien so etwas �hnliches waren, wie Tr�ume ohne wirklichen Schlaf. Der K�rper schlief nicht wirklich, aber er war auch nicht wach genug, um Wirkungen zu empfinden und sich von den Geisteskr�ften, den Fantasien usw. vollst�ndig zu unterscheiden. Und so musste ihre Wachheit auch zu einer �berwachheit, einer �berwachung werden. Die N�chte waren endlos und furchterregend, die Tage in "sonderbaren Verfeindungen": Wer hat ihr da wieder die Zigaretten unschmackhaft gemacht? Sie war in sich eingeschlossen mit einem v�llig abgeschlossenen Angstgef�hl, das ihr alle Wahrnehmungen unmittelbar zu einem Zustand ihrer Seele machte. Jede wirkliche Empfindung war v�llig abgetrennt hiervon und hierauf nicht bezogen. In ihren Gef�hlen hatte sie eine Wirklichkeit wahr, die mit ihrer Empfindung von Wirklichem nicht zusammenfand und – mehr noch – sie wegdr�ngte. Jedenfalls war es auch f�r sie wie f�r mich nicht nachvollziehbar, was sie da wirklich bedr�ngte. Es war zun�chst mal schlicht "ihr Zustand". Und das einzige, was in unserer Gemeinschaft wichtig und nicht ganz so gew�hnlich war, das war, dass der Zustand auch so sein gelassen und er�rtert oder erl�utert oder bezweifelt werden konnte. Um ihn ging es einfach nicht wirklich. Er war eine Tatsache, etwa wie eine Eigenschaft von Maria, die mal wieder am Ausbrechen war. Wir taten dann halt irgendwas, meist gingen wir einfach spazieren und sprachen �ber anderes. In der "Anfangsphase“ des Wahrnehmungsstrudels verschwanden dann die Stimmen wie von selbst. Wenn das System f�r sie feststand, konnten wir uns �ber die Notwendigkeiten verst�ndigen, die damit verbunden waren. Einige Male wollte sie dann auch wieder auf die geschlossene Station der Max-Planck-Klinik, um "etwas Festes“ um sich herum zu haben. Zwar waren auch dort die �berwachungskameras (f�r mich eigentlich vor allem dort), aber dort waren sie ihr eben vertraut und irgendwie gel�ufig, "verstehbar“ im weitesten Sinne des Wortes.
Ich sah in diesem Zustand ein verfestigtes Angstgef�hl, das keinen Lebensort mehr hatte, das sich selbst nicht mehr wissen konnte, weil es hierf�r keine Gewissheit mehr gab, weil es also selbst aus dem Zusammentreffen von vielen Ungewissheiten entstand: Die Ungewissheit der eigenen Liebe zu anderen Menschen (Liebe, Verehrung oder Bed�rfnis?), der Ungewissheit des Verhaltens der anderen hierzu (Best�tigung, R�ckweisung oder Belustigung) und der Ungewissheit des Existierens damit (Beruf, Geselligkeit und Klatsch) und vielleicht auch der Ungewissheit, woher und wohin solche Gef�hle kommen und gehen (untergehendes Selbstvertrauen beim Auftreten solcher Gef�hle, Selbstverunsicherung durch eine bestimmte Geschichte oder bestimmte Erfahrungen mit diesen Gef�hlen). Es war vielleicht einfach alles auf einmal, und das ganz dick. Vielleicht lie�e es sich ja auch wirklich als Zusammenprall mehrfacher Beziehungen in einem Gef�hl kl�ren? Dieses uns�gliche Gef�hl war ja auch durch Situationen und Stimmungen verursacht, in denen sich ihre Gef�hle durch Ereignisse oder Menschen zersetzten und sich von ihr fortrissen, nachdem sie sich darin auch selbst �berhoben hatte ("�berhoben“ im mehrfachen Sinn des Wortes). Vielleicht war es manchmal auch einfach nur eine Zeitdauer, in der sie "�berstr�mte“, in der ihre Gef�hle einfach zu stark wurden, weil sie zu isoliert waren. Wo sie durch andere wirklich ber�hrt worden war, musste sie sich selbst dann verlassen und wenn sie sich verlassen hatte, wurde sie von all dem �berw�ltigt, was sie ber�hrt hatte. War es nicht einfach ihr Lebensfunke, der �berspr�hte und dann in vielerlei Fantasie zerbarst? Aber woher kam dann das Fortleben im Wahn? Wie k�nnen "Fantasien“ zu einer Lebensgewissheit werden? Alleine aus Angst vor ihrer Verwirklichung?
Sie hatte z.B. einmal Liebesgef�hle zu einem ihrer Lehrer in der Berufsschule entwickelt und w�hnte sich kurze Zeit danach in einer Welt, in der sie den Erfolg ihrer Liebe schon lebte, und zwar um Jahre in die Zukunft versetzt, in der sie mit diesem Mann verheiratet und geschw�ngert war. Die anders lautenden Jahresangaben aus Zeitungen oder anderswo und auch die Mode des Jahres galten ihr wiederum als Betrug an ihr und ein Beweis, dass "alle mitmachten“. Durch was konnte sie sich so sicher sein, dass alle herk�mmlichen Beweismittel (aus Indizien der �ffentlich allgemein anerkannten Informationsquellen) keinerlei Wahrheit mehr haben durften? Nur aus Angst?
Ein anderes Mal, nachdem Sie eine ganze Zeit lang keinerlei Bekanntschaft oder geschlechtliche Verbindung hatte, stellte sie sich vor, dass mehr als 500 M�nner hinter ihr her waren. Wir konnten noch am einen Tag dar�ber lachen, am n�chsten war sie in h�chster Not und voller Pein, ob der Obsz�nit�t der Antr�ge, die ihr gemacht wurden. Was qu�lte sie in ihrer "Fantasie“ so, und sie "wachte doch nicht daraus auf“? Wie hoch, wie "g�ttlich“ ist die Wahrheit des Wahnsinns, dass sie keine andere Wahrheit neben sich zulassen kann? Wie und durch was mussten Welten getrennt sein, die nur alternativ auftreten durften, die also keine Wirkung aufeinander duldeten? Waren sie f�reinander wirklich wirkungslos, oder waren sie nur Formen von Wirkungen, aus denen sie scheinbar wirkungslos f�reinander bestanden, wiewohl sie gerade als heimliche Wirkung auseinander hervorgehen?
Und noch eine andere Frage dr�ngte sich auf. Einmal verlor sie sich, nachdem sie einen Mann ziemlich k�hl abgewiesen und �ber ihn scheu�liche Urteile gef�llt hatte. Er war f�r sie der letzte Dreck, so eine Art Sexmonster. Kaum zu Hause, h�rte sie schon die Klatschweiber reden, dass sie es mit dem ganz toll treibe. Und dann emp�rte sie sich sehr dar�ber, dass der Klatsch �ber sie losginge. Aber wir konnten auch gerne und ausgiebig dar�ber herziehen, �ber diese "schmutzigen Fantasien der Klatschweiber“ und in offen verheimlichter Neugierde an ihren Ferkeleien ihren veruchten Charakter studieren. Maria hatte eben einen herrlichen Humor und konnte sich eine Weile belustigt auch selbst beobachten und sich damit den Monster ihrer Wahrnehmung entgegenstellen. Ich war dann sehr gerne ihr Vertrauter; nicht nur ich und nicht wegen ihren geilen Stories, sondern wegen dieser wilden Welt, die so ganz weit weg und doch ganz nah war. Aber schnell wurde ihr Leben zu einer Marter der Ungewissheit, zum R�derwerk unergr�ndlicher Schuldprobleme und Lebens�ngste.
F�r einen Psychoanalytiker w�re es ja offensichtlich: Der Sexualverdr�ngung folgt das Schuldproblem auf dem Fuss. Aber es waren f�r mich keine Sexualverdr�ngungen. Die Inhalte ihrer Stimmen hatten keine andere Bedeutung als die eines Gewissens aus einer Erinnerung, die f�r sich "leergelaufen“ war, die sinnlos geworden ist und sich deshalb ohne Gewissheit, ohne wirkliche Empfindung und ohne Empfindung f�r die Wirklichkeit vergegenw�rtigt. Die Stimmen verfolgten einen Zweck, der nur vordergr�ndig darauf aus war, sie l�cherlich zu machen, zu desozialisieren und ihr Schuld anzulasten. Vor allem hatten sie den Sinn, ihr Erkenntnisverm�gen zu "reparieren“, ihre Wahrnehmung in irgendeiner Art zusammen zu halten, und sei es auch durch etwas ganz Ver-r�cktes.
Was war darin zerbrochen, dass es solcher Reparatur bedurfte? Was konnte sie nicht wahrhaben, nicht f�hlen, ohne damit g�nzlich unterzugehen, im Geist zu sterben? Es muss ein brutales "Problem“ sein. Ich war aber sicher, dass es keine einfache "Erfahrung“ sein konnte, kein eindeutiges "Trauma“ und auch keine "Verdr�ngung“, die zur Aufrechterhaltung eines "Triebkonfliktes“ best�nde, um "den seelischen Apparat“ (Freud) am Laufen zu halten wie einen gest�rten Motor. Wie soll eine Verdr�ngung existieren k�nnen, wenn sie doch keinerlei Frieden, keinen "Krankheitsgewinn“ oder kurz: keinerlei Not-Wendigkeit hat. Es kann gar nichts "in ihr“ gewesen sein, nichts, was ihre W�nsche und Bed�rfnisse ("Triebw�nsche“) je betroffen h�tte, sondern etwas, was einfach nur m�chtig �ber sie war und dadurch alles beherrschte, was und wie sie sich bewegen konnte und was sich in ihr regte, ohne je Bed�rfnis, also notwendiges Verlangen geworden zu sein. Es muss eine ganz einfache und knallharte Wirklichkeit gewesen sein, die den Wahnsinn notwendig macht. Es muss ein Problem sein, das Maria selbst nie wirklich und f�r sich haben konnte, eine Beziehung, die nicht die ihre war und die doch ihre volle Bezugswelt ausgemacht hatte, eine Identit�t, die sie nur durch andere und deren Bezug auf sich haben konnte, ohne f�r sich deren Sinn durch sich selbst zu leben. Was kann das nur f�r einen Sinn haben?
Es sind viele Fragen an Maria’s Leben, die sich nicht aus ihrem Erleben selbst beantworten lassen. Auch wenn die Seele selbst nicht in der Zeit und der Geschichte existiert, so hat sie doch ihre Geschichte, in der sich der Zusammenhang der Gef�hle in einer bestimmten Weise eingef�gt hat, wie er auch zugef�gt wurde. In den Gef�hlen haben wir �u�eres und Inneres wahr. Uns geht es darin so, wie wir uns in einem bestimmten Zusammenhang von vergangenen und zuk�nftigen Ereignissen, Erwartungen, Versprechungen usw. f�hlen. Manchmal ist das ununterscheidbar: Au�eres erscheint als Inneres und umgekehrt. Um sich das verst�ndlich zu machen, muss man in die Geschichte hineinschauen, so gut das eben geht.