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2. Zwischen Psychologie und Selbsthilfe
Psychologie kramt gerne in Gefühlen herum und macht aus dem Leben Geschichten von Gefühlen und aus den Gefühlen eine Geschichte von Urtümlichkeiten, von Mythologien und Ursprungsphrasen, die von all dem weg führen, was Gegenstand der Psychologie sein sollte: Die Wirkungen der Psyche zu ergründen. Narziß, Ödipus und Elektra begleiten ein psychologisiertes Leben stattdessen fortan wie eine Lebensmetapher, in der alle Urkonflikte eingeschmolzen sind mit denen Mann und Frau zu leben haben sollen, und sie begleiten das alltägliche Leben wie die Gebetsmühle der ewigen Widersprüchlichkeit des Menschen, bzw. seiner "Triebe“, was immer dies auch sein mag: Das Tierische, Göttliche, Prinzipielle, Utilitaristische oder Archetypische. Die Geschichten des Lebens werden auf die Geschichte der Gefühle reduziert und alles wirkliche Leben hierin subsummiert, wie eine Oberfläche über abgrundtiefen Begriffswahrheiten, in der ja nur aufscheinen, was die Unendlichkeit schon bereitet haben soll. Doch dies ist nur die Unendlichkeit von Begriffsbildern, die Wirkung ihrer konkreten Tautologie. Und Psychologie ist hierbei reine Theologie, eine der vielen Lehren vom Ursprung allen Lebens.
Eine Gef�hlsgeschichte kann es aber eigentlich nicht geben, wo doch Gef�hle entstehen und vergehen und sich in Geschichten ereignen, die "Realit�ten“, also Ereignisse, Beziehungen, Verh�ltnisse oder Tatsachen hinterlassen. Darin sind sie aufgehoben und in der Wirklichkeit, auch der unmittelbaren Wirklichkeit bewahrt. Sofern die wirkliche Geschichte mit den Gef�hlen in Einklang steht, ist die Geschichte der Gef�hle sachliche Begebenheit von Lebensgeschichte, Haus und Hof, Mann und Maus. Es bauen sich Bez�ge auf, die Produkte und Quelle der Lebensgestaltung sind. Geist und K�rper �ndern und entwickeln sich, indem sie sich �u�ern und durch ihre �u�erungen fortbestehen und darauf neue Geschichte gr�nden. Alle unsere Erkenntnisse bestehen hieraus und bestehen in dieser Form fort. Unsere Kulturgeschichte bezeugt dies ebenso, wie jede einzelne Lebensgeschichte, denn zumindest in der Geschichte stellt sich das Ganze der Beziehungen, die Wahrheit ihres Zusammenhangs dar. Und aus ihr heraus werden daher auch die L�gen erkennbar, die Scheinwelten und Mystifikationen der Verh�ltnisse, die uns ihren Sinn verschlie�en sollten. Nur in der Geschichte entfaltet sich ihr Begriff. Deshalb l��t sich Leben auch nur in seiner Geschichte begreifen, allerdings erst dann, wenn sein Begriff entfaltet, Geschichte vorbei ist (28).
Gefühlszusammenhänge zwischen den Menschen haben die Eigentümlichkeit, dass sie keine Spuren jenseits der Menschen hinterlassen, keine sachliche Wirklichkeit, die ihren Erzeuger, ihre Ursache verraten könnte. Wenn diese Wirklichkeit für unsere Wahrnehmung nicht entstehen kann, wenn sie also keinen Fortbestand außer uns hat und nicht gegenständlich, nicht wirklich vergegenständlichter Sinn von Menschen ist, dann bildet sich dieses übersinnliche Gefühlsgebilde, das wir Psyche nennen (15), das menschlichen Sinn hat ohne sinnlich zu sein. Darin steckt die Geschichte unserer Beziehungen zu Menschen, die nicht existent außer uns geworden ist, eine Geschichte, die nur in unseren Gefühlen haust. Die Psyche ist ein Gefühlszusammenhang, in welchem wir Subjekte wie Objekte unserer zwischenmenschlichen Geschichte sind subjektiv als Agierende, objektiv als Agenten. In jedem Fall haben wir mit anderen dabei etwas im Sinn etwas, das wir unmittelbar nicht erkennen, weil wir es nur in der Vermittlung leben. Nirgendwo wird dies außerhalb von zwischenmenschlicher Beziehungen existieren, mal ist es ihr Reiz, mal ihre Not. Zum Glück oder zur Schande kann darin werden, was in Wirklichkeit weder beschämt noch beglückt, weil es Sinn hat oder einfach nötig ist. Schuldig sind wir, wo wir dies nicht erkennen; die Frucht vom Baum der Erkenntnis erbringt die Erbsünde der Seele und die Arbeit als Strafe. Jedenfalls ist das Seelische der Sinn dieser Beziehungen, die keinen Sinn außer sich finden, der Sinn der Empfindungen und Gefühle, wie sie in der Wahrnehmung bei sich bleiben. So er keine ökonomische Form bekommt (z.B. als Familienhaushalt), besteht solcher Sinn nur in den Absichten der Menschen. Insgesamt ist das ein Doppelsinn, mit welchem Gefühlsinteressen ebenso verfolgt werden, wie sie auch verfolgt sind. Dies macht seelische Zusammmenhänge und seelische Wirklichkeit komplex und kompliziert. Aber auch sie haben Geschichte. Vielleicht kann man sie nur deshalb erkennen, weil sich in ihr nicht das Gestaltende, sondern das sich Wiederholende hervortut.
Als Kinder sind wir seelisch passiv, vorwiegend bedingt durch das Leben unserer Eltern, meist im Zusammenhang mit einer Familiengeschichte. Als Erwachsene stellen die Menschen selbst ihre Bedingungen und sind auch Lebensbedingung f�r andere, z.B. f�r ihre Lieben, ihre Angeh�rige und Zugeh�rige, ihre Kinder oder ihre alt gewordenen Eltern. Im Erwachsenwerden treten daher auch erst die Probleme auf, die solche urspr�nglichen Lebensbedingungen als Kinder in ihnen aufgebaut haben. Auch wenn sie oft als Liebesprobleme oder Lebensangst auftreten und auch nur dort verlaufen, so sind sie doch Probleme der Selbstwahrnehmung, die sehr von den seelischen Lebensbedingungen abh�ngen, die ein Mensch hinter sich oder auch gegenw�rtig hat. Art und Umfang dieser Probleme h�ngen davon ab, inwieweit sich ein solcher Mensch als bedingt und zugleich als Bedingung f�r andere, also objektiv ansehen kann oder sich der Objektivit�t der zwischenmenschlichen Beziehungen insgesamt beugen muss (13). Wie er sich von der einen Seite her wahr hat, so ist dies auch die Bedingung daf�r, wie er andere Menschen wahrnimmt. Es macht sein Erkenntnisverm�gen aus, was er unter dieser Bedingung empfinden und f�hlen kann, was er wahrnimmt und was er wahr hat und wie er beides aufeinander f�r sich bezieht.
Im Wahnsinn ist dies verschmolzen. Er ist eine Implosion des Erkenntnisvermögens Äußeres verschwindet nach innen, Inneres wird veräußert, das Gefühl wird empfunden, die Psyche kommt in ihrer Abgetrenntheit zu sich. Die Selbstgewissheit ist verloren, bzw. sie verliert sich zwischen Zuständen von Ungewissheiten und Gewissheiten in einem umfassenden Zweifel, einem leibhaftigen Erkenntnisproblem, in dem ein Mensch seinen Sinnen nicht mehr trauen kann, weil sie ihm mal in einem äußeren Sinn, mal in einem inneren gewahr sind, ohne dass beide miteinander zu tun haben. Alle Wahrheit ist entäußert, weil die Äußerungen anderer Menschen mächtiger sind als das Vermögen, mit eigener Wahrheit zu erkennen, was Äußerlich ist. Die Wirklichkeit, das Verhältnis von Ursache und Wirkung ist weit entfernt; aber sie verursacht letztlich immer das, was im Wahn wirksam ist, was er wahr hat. Er vollzieht in einer abgetrennten Innenwelt, was er an Ursachen wähnt für das, was in den Sinnen der Wahrnehmung wirksam ist (29).
An dieser Stelle wird dann der oder die Betroffene von anderen – meist besorgten Menschen – oder anfangs auch durch sich selbst als "krank" bezeichnet und ein Arzt gerufen, der ja nun mal der Profi f�r Gesundheit sein soll, dann der Psychiater oder der Psychologe. Die kommen aus ihrer Welt und ihren Vorstellungen und m�ssen (und wollen) sich von Berufs wegen in diese Situation einmischen. Es ist eine ziemlich absurde Situation – niemand kann was daf�r. Wie soll sich da etwas erschlie�en, wie soll ein Kampf zu Tage treten oder sich aufl�sen lassen, der ja schon lange w�hrt und sich unter klinischen Bedingungen noch weiter denn je von seinem Ursprung entfernt hat. Die Ungegenw�rtigkeit war ja schon das Problem der Gef�hle; jetzt wird sie total (14). Die Psyche ist ein objektives Problem geworden, das sich die Berufstätigen zum Gegenstand machen. Was auf den Betroffenen noch objektiv vielleicht Ursache für vielerlei Kränkungen war, was er nur aushalten konnte, indem er immer mehr sich selbst zurückgenommen hat, das macht nun ihn selbst objektiv. Er wird zum Fall, zu einer "seelischen Erkrankung“ oder noch krasser: Zum Geisteskranken. Weil er die Objektivität seiner Gefühlsprobleme nicht erkennen konnte, wird er nun selbst zum Objekt des Problematisierens, zum Objekt gut gemeinter Hilfe. Aber was soll da helfen? Was kann das sein, was das abgetrennte Seelenleben wieder einholt? Geht es da um Beistand, Rat, Unterstützung, Beruhigung, Medikamente ...?
Die Situation ist wirklich absurd und der betroffene Mensch ist jetzt wirklich schlimm dran. Was ihm wichtig war, wird ihm abgenommen. Was er f�r sich noch als Ausweg hatte, ist ihm jetzt versperrt. Gut f�r ihn gilt nur, was gut ist "f�r die Therapie“. Und das h�ngt davon ab, was darunter �berhaupt verstanden wird. Die allgemeine F�rsorglichkeit betrifft seinen Zustand. Jetzt soll in ihm aufgebaut werden, was ihm fehlt. Jetzt soll er den seelischen Halt bekommen, an dessen Bildung er selbst gehindert war. Jetzt soll all das mit den Mitteln und Handwerkzeugen der Therapie hergestellt werden, was er nicht von selbst ausgehend entwickeln konnte. Der Entstehungsort der Probleme ist verschwunden, ihr Werden obsolet. Es geht um das Funktionieren, um das Machen, um das Sein, um die Beruhigung, die Linderung – oder auch nur um die Kasernierung oder Einschl�ferung.
Die Psyche aber wirkt höchst subjektiv. Niemand kann wirklich verstehen, was für einen anderen Menschen wichtig ist; nirgendwo können sich Menschen in irgendeinem Sinne voll und ganz verstehen oder begreifen. Und vor allem kann ein Mensch seine Befreiung nur durch sich selbst finden. Wo er kämpft, da kämpft nur er und was er sucht, das weiß nur er. Andere können das vielleicht so nach und nach begreifen, aber erkennen können sie es nur wenn überhaupt wo sie diesen Menschen lieben. Aber um Liebe im eigentlichen Wortsinn kann es hier nicht gehen. Wenn ein Mensch Hilfe sucht, weil er sich von seinen Gefühlen bedrängt fühlt, so handelt es sich eben doch vor allem um ein objektives Problem. Nicht, weil man auf das "Subjektive“ objektiv eingehen müsste, sondern weil das Hilfe-Suchen selbst nur objektiv ist. Eigentlich sollte es nur darum gehen, dies zu verstehen. Deshalb muss die seelische Situation so objektiv begriffen werden, wie sie ist nicht, um Hilfsmittel bereitzustellen, sondern um einen "Zugang“ zu dem Menschen zu finden (30).
Wie gesagt, die Situation ist absurd. Im Grunde braucht der betroffene Mensch wohl wirklich nur das, was er schon gefunden hat: eine neue Lebensbedingung, die sich von seiner vorigen darin unterscheidet, dass er Abstand finden kann. Oft ist auch einfach nur wichtig, Menschen zu treffen, die in einer �hnlichen Lebenslage sind und hier�ber sich verbinden k�nnen, die dar�ber sprechen k�nnen, wissen haben, wie man damit zurecht kommt. Hierf�r sind Selbsthilfegruppen und Selbstorganisationen entstanden. Aber alleine das Zusammensein �ndert noch nicht, was im Leben eines Betroffenen geschehen ist und geschieht. Zugleich h�lt er den Umstand ja auch nicht aus, weil er noch im �berkommenen, in vergangener Gegenw�rtigkeit seinen zwiesp�ltigen Halt hat. Um aus dem Gef�ngnis wirklich auszubrechen, kann eine Ver�nderung oder Unterbrechung des Alltags zwar schon ein erster Schritt sein, es ist aber noch keine andere Wirklichkeit. Wenn noch die Br�cken zum Alten bestehen, so k�nnen sie vielleicht aus der Ferne anders angegangen oder wirklich gel�st werden, ein wirkliches Ende finden, weil neue Welten entstehen. Aber es besteht auch die Gefahr, neue Formen der Isolation aufzubauen.
War das Alte eine lebende Isolation, so darf das Neue kein Leben der Isolation, kein Ghetto werden. Isolation ist zwar schon mal r�umlich �berwunden, wenn sich die Betroffenen innerhalb oder au�erhalb der Psychiatrie zu einer Selbsthilfegruppe, Selbstorganisation oder dergleichen zusammengefunden haben. Aber von Bedeutung ist, was sie sich zu sagen haben, was sie verbindet, worin sie sich austauschen k�nnen. Immerhin haben sie irgendwie �hnliche Probleme und k�nnen sich aus ihrer Lebenserfahrung heraus gegenseitig meist besser helfen, als dies ein Profi kann – solange sie ihre Probleme nicht verwechseln, solange sie darin eben auch gen�gend Abstand bewahren und ihre Unterschiedenheit ebenso erkennen, wie ihre Verbundenheit. Der wichtigste Schritt ist der Schritt aus der Isolation. Und der ist nun nicht einfach nur r�umlich zu verstehen. Der Fortgang der Geschichte h�ngt sehr davon ab, was die Leute miteinander zu tun haben, die so zusammen gew�rfelt werden, und wie sie damit zurecht kommen.
Aber Zust�nde bleiben eben auch Zu-St�nde, wenn sie sich nicht durch neue Geschichte �ffnen. In den Beziehungen der Menschen, auch wenn sie als Betroffene ein hohes Ma� an Solidarit�t haben, setzen sich oft die selben Probleme fort, die zur Selbstisolation gezwungen hatten. Neben der �u�eren Notwendigkeit, mit Menschen zusammenzutreffen, die in einer �hnlichen Lebenslage sind, gibt es auch eine innere Notwendigkeit, die sich nicht einfach abtun l�sst, und die sich nur in den Abschnitten des wirklichen Lebens aufheben kann, aus denen sie erwachsen sind (oder in denen sie �berhaupt nur auftreten).
Deren Grund wirkt fort, auch ohne dass er anwesend ist. Er steckt in dem Verh�ltnis, das ein Mensch zu sich selbst hat, w�hrend er mit anderen verkehrt. Manchmal wird er schon durch neue Beziehungen �berwunden, manchmal nur dadurch, dass ein Mensch das Verh�ltnis, das er zu sich hat, als St�rung des Verh�ltnisses, das er zu anderen hat, erkennen muss. Auch solche Erkenntnisse k�nnen spontan sein. Sind sie es nicht, so sind Erfahrung und Wissen n�tig, mit denen sie erm�glicht werden. Solches Wissen ergibt sich aber nicht aus den unmittelbaren Verh�ltnissen, sondern aus der ganzen Lebensgeschichte eines Menschen und ihrer "Fortpflanzungslogik“ (31). Darin muss der Grund stecken, warum ein Mensch unter Gef�hlen leiden kann, die ihm so objektiv erscheinen, wie eine Stimmung, der er nicht entrinnen kann.
Aber gibt es solche Objektivit�t wirklich? War das vielleicht nur eine Reminiszenz unvollkommener Gedanken oder Entwicklungen, subjektive Schw�che, die mit Objektivit�tsbehauptungen zerredet wird, weil sie nicht als Bestandteil des Subjektiven anerkannt werden soll? Das kennt man ja zur Gen�ge, dass alles aus einer Individualgeschichte erkl�rt wird, damit sein gesellschaftlicher Grund nicht erkannt wird. Umgekehrt wird vieles mit der Feststellung, dass es gesellschaftlich begr�ndet sei, bis zur Unkenntlichkeit entleert. Ist es vielleicht doch noch die Krankheit der Psychologie, der man da wieder mal nachrennt, n�mlich dort ein seelisches Problem zu sehen, wo man einfach zu akzeptieren h�tte, dass das objektive daran noch nicht begriffen ist, dass man akzeptieren muss wie es ist, um "richtig“ handeln zu k�nnen, wenn man es begriffen hat?
Es ist ein schwieriges Thema. Nat�rlich geht es letztlich um die Anerkenntnis der eigenen Subjektivit�t und um das Handeln k�nnen. Aber gerade das scheint durch etwas Fremdes verstellt, das sich als Eigenes eingeschlichen hat: Wie sonst k�nnen seelische Regungen �berhaupt objektiv sein, die doch einer zutiefst subjektiven Geschichte entspringen. Wie kann sich aus einer Lebenserfahrung ein Gef�hl heraustrennen, selbst�ndig werden und eigene Kraft besitzen? Diese Kraft steckt in den Sinnen der Wahrnehmung, ist k�rperlich wirksam und geistig zugleich und scheint unentrinnbar zu sein, weil sie selbst wie ein Sinn, wie ein Lebensbestandteil des Betroffenen t�tig ist.
Wenn selbstst�ndige Kr�fte entstehen, so ist das zwar verselbst�ndigte Subjektivit�t. Aber gerade hierdurch sind sie auch objektiv: Gegen-Stand, etwas, das dem Subjekt gegen�ber steht. Wahnsinn ist f�r mich ein lebendiges Erkenntnisproblem, in welchem sich Grausamkeiten fortleben, die keine Gegenwart haben k�nnen und die einen Menschen gebildet haben, der sich fortw�hrend selbst einholen muss. Er ist nicht einfach fortgesetzte Grausamkeit, sondern das Verh�ltnis einer grausamen Geschichte zu einer Gegenwart, in welchem er sich solange fremd bleiben muss, bis er dort angelangt ist, wo er auch lebt. Das macht schlie�lich auch die Isolation aus, in der sich der Kreis schlie�t und in einem Menschen solange fortlebt, bis sie wieder durchbrochen werden kann, d.h. wieder Sinn bekommt.
Ein Mensch kann keiner Macht unterworfen sein, wenn er darin nicht in seinem Leben abh�ngig ist. Die Geschichte isolierter Gewalt ist daher auch die Geschichte isolierter Macht, eine Geschichte, in der die Unentrinnbarkeit aus einem Machtverh�ltnis bestimmend ist. So wird sich noch zeigen lassen, dass eine Macht von Menschen �ber Menschen, die sich seelisch auswirkt, sich auch nur durch die Abgetrenntheit von Lebensr�umen wirklich entfalten kann. Letztlich ist die Grundlage seelischer Gewalt tats�chlich eine Lebensform (wenn man so will auch Lebensstruktur). Es geht hier sehr oft um die Familie. Aber die Gewalt besteht nicht aus dieser Form. Sie hat ihren Sinn in dem, wie sich Menschen in dieser Form aufeinander beziehen, wie also ihre Beziehungen formbestimmt sind. Dadurch, dass Eltern innerhalb der Familie allm�chtig sind und sich ihre Macht auch als Liebesmacht �u�ern kann, sind ihre Kinder vor allem innerlich mit der formbestimmten Gewalt verstrickt. Alles, was sie werden k�nnen, h�ngt von der Verbundenheit ihres Lebendigseins mit anderen Menschen zusammen. Besteht hierbei eine Isolation, so meist durch die Macht, welche Eltern �ber ihre Kinder haben. Von daher ist die Geschichte des Lebensraums Familie sowohl subjektiv vom Leben der Eltern, ihrer Liebe und Zuwendung, wie auch objektiv durch die Art und Weise des Gebrauchs und der Ausdehnung von elterlicher Macht bestimmt. Nicht nur innerhalb der Familie, aber meist dort, wird Macht und die darin begr�ndete Gewalt gegen sich und andere f�r ein ganzes Leben bestimmt, solange dieses nicht in seiner Not dagegen aufsteht.
Psychologie kann diese Geschichte aufspüren, wenn sie sich kritisch zur Isolation eines inneren Wesens stellt. Man könnte sagen, dass Psychologie die Erforschung der Logik des Seelischen ist, die erklären können muss, wie es entsteht, sich entwickelt und als ein selbständiges Wesen erhält. Psychologie kann also nur als Kritik der Psyche bestehen, als Selbstfindung geistiger Kräfte, welche die Vergegenständlichung der Gefühle aufgreift, um ihr Leben zu befreien, um das frei zu setzen, was in den Gefühlen an Leben besteht denn Gefühle für sich leben nur davon, dass sie einem Leben entsprungen sind und leiden daran, dass sie es im Inneren eines Menschen zusammenhalten müssen. Dies ist mühevoll und verlangt viel Arbeit, welche die Psyche zum Zusammenhalt der Gefühle aufwenden muss. Die Geisteskraft, die sie dabei benötigt, wäre besser verwandt in der Lebensgewinnung des Geistes, der in den Gefühlen haust. Doch von dem ist die Psyche das gerade Gegenteil, wohl seine Form aber diese auch nur für sich. Nur die Aufhebung der Psyche wird diesen Geist freisetzen können.
Für mich ist klar, dass es Psyche in dieser Isolation des Geistes von seinem Sinn gibt und nur in dieser Form besteht und fortbesteht. In dieser Form unterscheidet sie sich auch von ihrer Geburtsstätte, den Gefühlen und Empfindungen, die ein Mensch hat. Die Ideologen der Psyche machen aus ihr ein positives Individualwesen, das als quasi schöpferischer Kern des individuellen Menschen anzusehen sei. Aber zum schöpferischen Menschen braucht es keine Psyche. Er arbeitet ja mit Sachen, Menschen und Gefühlen, ohne irgendetwas verselbständigen zu müssen. Ja, gerade seine Fähigkeit, Zusammenhänge aufzugreifen, lässt ihn schöferisch sein. Das ist seine Eigenschaft. Die Psyche aber hat Absichten, die es zu ergründen gilt, wo die Not es verlangt oder die Sehnsucht der Freiheit es erfordert.
So war mir klar geworden, dass ich diese Gr�nde erarbeiten muss, durch welche seelisches zu einer geistigen Verselbst�ndigung, zu einer inneren Objektivation des Geistes f�hrt. Und ich dachte auch, dass ich das muss und kann, ohne die Auffassung eines seelischen Wesensprinzips zu teilen. Ich war fest davon �berzeugt, dass Psychologie nicht eine Theorie der Individualit�t sein konnte, sondern eine Theorie der Selbstentfremdung sein muss. Und ich wusste, dass die bisherige Psychologie diese Theorie noch nicht zustande gebracht hatte (32). Ich verstand mich im Grunde als Forscher, welcher einer Psyche auf die Spur kommen wollte, die sich nicht durch eine Individualisierung von natürlicher Geschichte, sondern aus kultureller Selbstentfremdung des Menschen im Individuum erklären ließ (33). Es war f�r mich ein Grund, warum Menschen nicht nur die Hallen ihrer existetiellen Isolation verlassen sollten, sondern sich auch treffen m�ssen, um sich durch ihre Erfahrung und Wissen �ber diese Entfremdung gegenseitig zu bereichern.
In diesem Zusammenhang eines Ganzen l�sst sich auch das Teil anders sehen. Die Strukturen der Kultur werden nicht unbefragt als Lebenstatsachen hingenommen, wenn sie sich nicht als Lebensausdruck der Menschen bew�hren. Wo sie Macht gegen Menschen verk�rpern, geht diese Macht auch in das Leben der Menschen ein. Das ist im Einzelnen so, wie auch allgemein. Psychologie, die auf der Seite der Menschen steht, wird diesen M�chten nachgehen und ihre Gewalt hinterfragen.
Die Themen, die in unserem Verein allgemein bearbeitet wurden, entsprachen diesem Anliegen. Die Formen kultureller Gewalt sind �u�erlich und wirken innerlich, wenn sie akzeptiert werden – sie funktionieren so gut, wie die Schnur an einem Hampelmann: Wer akzeptiert, wie er gezogen wird, der muss sich nicht wundern, wie er sich bewegt. Von dieser Seite war eine Selbsthilfegruppe eine gute Selbsterkenntnisgruppe. Aus den Themen entstanden Kontakte und Verbindungen. Die Menschen lernten sich besser kennen und hatten miteinander zu tun.
Im Einzelnen sah dies allerdings anders aus. Hier war ein so sachgegebenes Zusammensein nicht m�glich. In den Einzelbetreuungen musste mehreres zugleich geschehen: Sozialarbeit, Psychologie und Kulturarbeit. Ich verstand die Aufarbeitung von kultureller Gewalt in zwischenmenschlichen Verh�ltnissen als den wichtigsten Stoff meiner Einzelbetreuung. Meist war dabei die Familie der wichtigste Ort, worin sie sich ereignete. Die Arbeit bestand zum einen darin, Gewalt konkret zu begreifen, vor allem, dass sie von den Subjekten meist gar nicht gewollt, wohl aber betrieben wird, wie bei einer Kette von Hampelm�nnern, die nicht ausscheren k�nnen. Zum Zweiten ging es um die Erw�gung von Strategien, wie dem ausgewichen oder wie sie angegangen werden kann, oder wie ein hiervon geschiedenes Leben m�glich ist. Und zum Dritten ging es um die Einbeziehung des Einzelgeschens in die Aktivit�ten des Vereins.
Ich fasste das zentrale Thema der Kulturmacht als das in allen Verh�ltnissen durchg�ngige Thema auf. Obwohl im einzelnen die Not erst mal oft nur durch Hilfreichungen gelindert werden konnte, gelang es doch auch �fter, die Geschichten seelischer Not aufeinander zu beziehen. Dies hing stark vom Engagement in den Einzelbetreuungen ab und wie dort die Probleme angegangen und die puren Notwendigkeiten relativiert werden konnten.
Nun ging es aber erst mal darum, kulturelle Gewalt zu erkennen. Ich fragte mich also, welche Gewalten es da in Marias Leben gegeben und wie die auf sie gewirkt haben mussten. Es mussten �berm�chtige Gewalten gewesen sein. Aus dieser �berlegung entstanden meine Fragen, die ich an sie hatte und durch deren Beantwortung ich zusammen mit ihr weiterkommen wollte. In der Frage von Gewalt waren wir uns einig geworden, wenn auch in v�llig verschiedenem Sinn. Sie suchte jede Feststellung von Gewalt zu meiden, sich allzeit vers�nlich zu zeigen und sie letztlich zu ignorieren. Ich versuchte, sie in Lebensstrukturen (z.B. Familie), Institutionen (z.B. Psychiatrie) und �sthetik (z.B. Bauweisen) aufzusp�ren und zu zeigen, dass sich die Menschen darin auch gewaltt�tig verhalten. Ich wollte hier�ber aufkl�ren; sie wollte davon nichts wissen. Aber immerhin hatten wir jetzt unsere Arbeit am Wahnsinn als gemeinsame Arbeit mit verteilten Funktionen begriffen. Nur kamen wir in diesem Gesensatz nicht weiter.
Ich versp�rte in Maria diesen ungeheuer umfassenden Kampf um sich selbst. Sie konnte ihn nur bestehen, wenn sie ihre wirkliche Ohnmacht ent-decken k�nnte – nicht aufdecken, wie ein unterschwelliges Leben, sondern als eine Wirklichkeit, der sie sich unterworfen wissen muss, um sich aus ihrer Unterworfenheit zu emanzipieren.
Sie war von all den Kr�ften, die ein Mensch subjektiv hat, von ihrer Liebe, ihren Gef�hlen, ihrem Herz so beherrscht, dass sie ihr Leben selbst nur als Objekt ergriff, sich als Objekt ihrer eigenen Kr�fte wahr hatte und sich selbst gar nicht anders kannte. Die "Krankheit" war eine unendlich m�chtige Ungeheuerlichkeit, die eigentlich nichts mit ihrem Leben zu tun zu haben schien. In ihrem Leben erschien sie ihr so unbegr�ndet und hinterh�ltig wie ein Geist. Und wenn man dem Recht gibt, wie Wahnsinn auftritt und erscheint, so musste man sich diesem Mythos des �berm�chtigen, �bersinnlichen auch beugen. Vielleicht kann man sich zur Begabung hierf�r sogar begl�ckw�nschen, �bersinnlich f�hlen oder seine N�he zum Unheimlichen, sich als Kenner der Hexerei feiern. Ge�ndert hat dies aber noch nichts.
So konnte Maria das auch nicht verstehen. So verstehen es ja meist nur Menschen, die dem subjektiv �berhaupt nicht ausgeliefert sind, aber gerne B�cher dar�ber schreiben. Aber sie litt auch nicht an ihrer Seele, sondern an dem Unverm�gen ihres eigenen Lebens. Sie litt daran, dass sie ihr Leben von lebensfremden Interessen verstellt fand. Sie litt an ihrer Selbstentfremdung, die zugleich Macht �ber sie hatte. Die "seelische Erscheinung" des Wahnsinns ist nach meiner Auffassung nichts anderes als die Wirklichkeitsform eines aufgehobenen Lebens, das der lebende Mensch sinnlich nicht mehr wahr hat. Er wird verr�ckt, weil ihm seine eigene Welt entr�ckt ist; die Welt seiner Wahrnehmung, die Vertrautheiten und Vertraulichkeiten fehlen ihm genauso wie die Hintersinnigkeiten, die darin �bermittelt werden. Die Vergangenheit isolierter Lebensr�ume wird so zur Gegenwart isolierter Gef�hle.
Wenn und weil das vergangene Leben in einem geschlossenen Raum stattfand, ist es im gegenw�rtigen nirgendwo vorhanden. Ich konnte zwar davon ausgehen, dass dieser Raum Marias Familie gewesen sein musste, aber ohne sie konnte nicht erkennbar werden, wer darin wie wirksam war. Die Familie ist durch ihre Funktion als Lebensburg Hort von Intimit�t und hat ihre gesellschaftliche Macht vor allem dadurch, dass sie als ein Negativ zur �ffentlichen Kultur, als Ausgleich �ffentlicher Funktionalit�ten einen wesentlichen Teil des Menschseins bewahrt und beh�tet. Was Eltern als Verh�tung und Beh�tung betreiben, gestaltet den Familiensinn und das Verh�ltnis der Menschen darin. Zugleich sind sie darin lebende Menschen, die selbst auch den Notwendigkeiten des formalisierten Lebens folgen m�ssen und zugleich darin ihren Sinn haben. Was sie im Sinn haben, ist in diesem Widerspruch oft unerkennbar und unterliegt dem erzieherischen Verh�ltnis (vergl. "Skizzen zu einer Erkenntnistheorie der Kultue“). Wenn die Geschichte in der Familie vollst�ndig isoliert ist, so wirkt sie als vollst�ndige Lebensbestimmung in den Kindern fort. Ihr Leben jenseits der Familie wird zum Fiasko.
Die Gegenwart erscheint geschichtslos, weil die M�chte der Vergangenheit keine Wirklichkeit mehr haben k�nnen, aber in den Gef�hlen der Menschen wirken. Deshalb tritt das vergangene Leben in keiner Weise gegenw�rtig und auch nicht als ein jenseitiges auf, sondern treibt sich in den Wahrnehmungen selbst herum wie ein Gespenst. Sie selbst werden doppelsinnig, enthalten einen Sinn, der hinter aller Wahrnehmung wirkt und sich in den Wahrnehmungsprozess selbst hineindr�ngt wie eine Stimme der Vergangenheit, eine Meinung aus einer Geschichte, die nirgendwo wirklich ist, aber in Maria viel Wirkung hatte. Die W�hnungen verraten also eine hinter jeder Wahrnehmung verborgene "Meinung der Seele", die sich nur noch in der Wahrnehmung gestalten kann wie ein fremder Sinn, der aber f�r die Wahrnehmung zugleich nicht wahr ist. Er besteht daher fort wie eine objektive Macht vergangener Gef�hle, welche in der Gegenwart dadurch wirken, dass sie diese nur so erkennen k�nnen, wie sie f�r die Vergangenheit sein darf. Das ist nicht irgendein Verarbeitungsmodell oder Muster, sondern ein wirklich aktives K�rperged�chtnis mit einem Sinn, der die Gegenwart bedroht und f�r den Maria noch keinen gegenw�rtigen Sinn hatte.
Das Objektive des nicht wahr gehabten Lebens, dieser Hintersinn der Wahrnehmung, ist aber auch kein "Unbewu�tes" – nichts, was durch inhaltliche Hervorkehrung in das Bewu�tsein gelangen k�nnte und sodann Ruhe und Friede oder Befriedigung finden k�nnte, so als seien die Getrenntheiten der Wahrnehmung lediglich eine Abspaltung der Sinne vom Bewusstsein. Es ist vergangene Wirklichkeit, die als Unleben fortbesteht, das im Leben wirksam bleibt, so dass es keine keine Wirklichkeit bekommen kann und in einem t�tlichen Teufelskreis sich erzeugt, wo es vernichtet wird. Es kann seine Wirklichkeit, seine Wirkung und seine Best�tigung als menschliches Leben nicht erreichen, solange die t�tlichen Kr�fte der Vergangenheit nicht erkannt sind und �berlebt werden k�nnen. Nach meiner Auffassung ist dieser Hintersinn ein ungelebtes Leben, ein Leben, das nicht leben kann, aber fortbesteht als eine "Meinung der Seele", mit der sie sich �berall in die Wahrnehmung einmischt und so agiert, wie sie es n�tig hat. Es ist pure Lebenserfahrung, die keinen Sinn mehr hat, aber sich aller Sinne bedient. In der Stimme spricht das Gebot der Stimmung und dieses kommt aus vergangener Geschichte, welche die Gegenwart nicht ertr�gt.
F�r viele Menschen ist der Wahnsinn vielleicht eine nat�rlich Durchgangsphase ihrer Gef�hle, eine Geschichte, die in eine Krise gekommen ist. Niemand sollte sich da gro� einmischen. Wer es selbst leben muss, wei� sicherlich am besten selbst, was er oder sie brauche und wird vielleicht auch die Mittel finden (oder sie m�ssen geschaffen werden), durch die er oder sie weiterkommt. Aber das soll nicht dar�ber hinwegt�uschen, dass es Krisen gibt, f�r die alle Wege verschlossen sind, sei es, weil sie keine Existenz, sei es, weil sie keinen Sinn mehr haben.
Hier geht es dann erst mal um Spurensuche, um das Hervorbringen von Verdecktem, das nur leben kann, wo es sein kann und das nicht ist, weil es in seinem Leben verstellt ist. Das macht das Problem psychologischer T�tigkeit aus: Ohne sich einzumischen sollte sich der Psychologe als Wegbegleiter, als Mitdenker und R�ckhalt zur Seite stellen, seine Gedanken spinnen und mitteilen. Die Entwicklung l�uft nicht �ber ihn, aber seine Anwesenheit macht den R�ckhalt aus (hier�ber muss er sich selbst gewiss sein und auch Rechenschaft abgeben). Seine Arbeit dabei ist nicht so sehr das Mitf�hlen, sondern das Schlu�folgern und das Erschlie�en. Zust�nde l�sen sich auf, wenn Bewegung entsteht, wenn Erschlossenes Fragen aufwirft und neue Orientierung erfordert. Sie verlieren ihre Objektivit�t, wo sie in das Leben zur�ckfinden oder ein anderes Leben verlangen – wenn sie also eine Lebens�nderung begr�nden.
Die Sprache wird die wichtigsten Br�cke zum Leben der Betroffenen sein. Andererseits muss ein Psychologe oder eine Psychologin auch allgemein verstehen, was vor sich geht, damit er oder sie R�ckhalt sein kann, der auch seinen eigenen Sinn einbringt und Verfestigtes befragen oder Verwirrtes aufgreift und seine Notwendigkeit befragen kann. Ihr oder sein Lebensverst�ndnis ist entscheidend f�r das, was zur Sprache kommt. Und hieraus ergeben sich auch die Kenntnisse oder Erkenntnisse �ber die seelischen Zusammenh�nge, welche die Schl�ssel f�r seine oder ihre Fragen sind, die sich bei dieser Arbeit entwickeln. Die psychologische Arbeit ist g�nzlich anders als die, welche der Betroffene zu leisten hat. Aber dennoch sehe ich darin eine Interessengemeinschaft, wenn sich beide in ihrem Lebensverst�ndnis treffen k�nnen, wenn es beiden um die Befreiung und um das Eintreten gegen objektive M�chte geht (35).
Deshalb bestand meine erste Arbeit überhaupt aus der Entschlüsselung des Sinnes, den der Wahnsinn hat. Die Nuss, die dabei für mich zu knacken war, war zuallererst, das "Symptom" als wirkliches und begründetes Geschehen zu begreifen. Aber das waren eigentlich auch schon zwei Arbeiten: Zunächst ging es überhaupt darum, den Wahnsinn als wirklichen subjektiven Sinn zu begreifen, als eine Lebenserfahrung, die nicht einfach nur moralische Kontrollinstanzen hinterlassen hat, sondern mit gutem Grund sich nicht erkennbar zeigt. Und um diesen Grund auch zu verstehen, musste sozusagen der objektive Sinn begriffen sein, den der Wahnsinn hat. Mir konnte ja niemand einfach berichten, was hinter den Zuständen so alles steckt. Ich musste nachfragen und überlegen. Es erforderte einen Denkakt, den subjektiven und objektiven Sinn des Wahnsinns zu unterscheiden, sozusagen eine Arbeit an der Wahrnehmung selbst, nämlich daran, in der Form des "Symptoms“, in den Stimmen, durch welche die Psyche sich zu erkennen gibt, ihrem Gehalt, ihrem Anlass usw. überhaupt etwas zu entdecken, was jenseits dieser Erscheinung jedermann zugänglich und verständlich wäre, wäre es nicht für sich abgeschlossen. Es ging um den Sinn, der die Meinung der Seele geschaffen hat und um den Sinn, der sie verschlossen hält. Es besteht ein Doppelsinn in dieser wahnsinnigen Form, der nur regelnd und handelnd auftritt, ohne subjektive Begründung zu zeigen. Und um sein Regelwerk zu unterbrechen, muss man die Regeln kennen.
Die dritte Arbeit bestand schlie�lich darin, die Bedingungen zu schaffen, dass sich die Verstrickungen dieser Wahrnehmungszusammenh�nge aufl�sen k�nnen. Sie besteht nicht mehr aus Denken, Rat oder Tat oder Sprache �berhaupt, sondern aus wirklichem Dasein als R�ckhalt f�r sie. Aus dem gemeinsamen Wissen ihrer "Zust�nde" war ja auch schon ein Vertrauen erwachsen, durch das sie sich besser sein lassen konnte, zugestehen konnte, wie sie war. Mein Ziel war einfach nur, dass sie sich in einer neuen Weise kennenlernen, Erfahrungen machen kann, denen sie sich ohne Beistand nicht ausgesetzt h�tte und somit ein Selbstvertrauen m�glich zu machen, das ihr ihre bisherige Geschichte verweigert hatte.
Alle diese Arbeiten verliefen praktisch gleichzeitig. Es erforderte Aufmerksamkeit und auch die Bereitschaft, in den kritischen Phasen eine Art Lebensbr�cke zu sein. Das ist ziemlich problematisch, weil ich nicht ohne Grund einfach und jederzeit f�r sie gegenw�rtig sein konnte oder wollte. Aber ich war auch neugierig genug, um immer wieder da zu sein, wenn sie Kontakt suchte. Dadurch, dass sie auch bald wirklich weiter kam, hatten sich keine Leerl�ufe ergeben, in denen sich solche Betreuungsverh�ltnisse leicht auch verschlei�en k�nnen, wenn darin der Gewinn eines Beistands nicht die Angst vor einer Abh�ngigkeit und Selbstaufgabe �berwiegt.
Ich denke, dass es nur durch dieses fortschreitende Begreifen ihrer Lebenszusammenh�nge m�glich war, auch mein eigenes Interesse zu best�rken und ihm auch in der Beziehung zu ihr nachzugehen. Ich konnte mich hierdurch auch dort mit ihr verst�ndigen, wo sie mit sich verzweifelt war, wo sie im Zwiespalt ihrer Empfindungen reine Anwesenheit eines "Mitwissers" brauchte, ohne dass der ihren Selbstzweifel aufl�sen konnte. Aber er war da und "erinnerte" sie an das Wissen, das auch schon mal als Br�cke funktionieren kann. Auf jeden Fall war diese kleine Gemeinschaft eine gro�e Hoffnung, vielleicht manchmal zu gro�. Wichtig war, dass wir beide in unserer Arbeit auch weiter kamen.
Ein wirkliches Lebensproblem als Problem unwirklicher Lebensverh�ltnisse
IIn der Auseinandersetzung mit Maria waren f�r mich ihre Stimmen, ihre Verfolgungsangst und ihre Schuldgef�hle Wirklichkeiten von ihr, die ich als Verk�rperungen von Wahrnehmungen verstand, die sich in diese Form verwandelt hatten. Durch den Gedanken der Metamorphose von Wahrnehmungen wollte ich diese mit mir verst�ndlichen Verh�ltnissen verbinden, wollte also von einer K�rperform der Wahrnehmung r�ckschlie�en auf die Verh�ltnisse, in denen sie k�rperlich keine andere Form haben konnte.
Ich kann Wahnsinn als eine Verr�ckung von Sinn und Wahrheit in der Wahrnehmung begreifen, als Beherrschung der Empfindungen durch Gef�hle, die st�rker sind, als es das Wahrnehmungsverm�gen sein kann. Die Heftigkeit dieser Gef�hle und vor allem ihr Sinn waren mir lange v�llig unklar. Freud sah in der "Psychose" eine �berflutung des "Ichs" durch W�nsche aus dem "Unbewussten". Das waren f�r mich leere und auch falsche Begriffe – irgendwie gemein, weil sie den Betroffenen auch noch zum Subjekt seiner Ohnmacht machten. Nat�rlich war es auch mein Ehrgeiz, diesem "Individualpsychologen mit gesellschaftskritischem Touch" entgegenzutreten. Ich benutzte zun�chst einfache dialektische Denkschemata, durch welche R�ckschl�sse auf die Quelle des Reflektierten m�glich sind, ohne dass denen eine sonderliche Wahrheit zugesprochen wurden. Material hierf�r waren entweder inhaltliche Geschichten aus Tr�umen oder Stimmen, oder es waren �berlegungen zur Fortbildung von Formverwandlungen, z.B. die Wiederkehr vernichteter Gef�hle in der Verfolgungsangst. Oder es waren Versuche einer Interpretation von immer wiederkehrenden Stimmungen oder von Wahrnehmungen, die sich mir lediglich �ber �sthetische Br�cken (z.B. Architektur und Stimmung) erschlossen. Von da her stand zwischen mir und Maria nicht die Frage von verr�ckt oder gesund (obwohl gerade Maria sie mir st�ndig stellte), sondern das, worum es in Wahrheit ging – da war sie genauso gefordert wie ich. Zun�chst ging es mir um die Herausarbeitung des "Problems" innerhalb der verwandelten Form selbst und sp�ter um die Notwendigkeit der Formverwandlung als solche. Ich sah Maria also wirklich als verfolgt an, wenn sie von Verfolgung sprach, nicht – wie das gerne gemacht wird – weil ich ihr den Status des Verfolgtseins mit Leichtigkeit zubilligen konnte, sondern weil ich wirklich davon �berzeugt war, dass in ihr Verfolgung stattfand. Mir war lediglich der Kern der Verfolgung selber unklar, denn ich fand an Maria allein die Wirkungen derselben vor.
Andererseits aber begann diese Auseinandersetzung nicht mit den Inhalten ihrer Probleme, sondern durch mein praktisches Dasein als Mensch, mit dem sie reden konnte, der eine andere Haltung zu ihrer "Krankheit“ hatte, die sie kennenlernen wollte, und der eine Art Wirklichkeit innerhalb ihrer eigenen Wahrheitsfrage war. Die Frage, ob sie w�hnt oder wahrnimmt, ob sie "spinnt" oder ob es sich um "Tatsachen" handelt, was sie h�rte oder f�hlte, wollte sie st�ndig von mir beantwortet haben. Gegen diese "Rolle" musste ich erst mal ank�mpfen, bevor unsere Beziehung �berhaupt beidseitiger werden konnte. Es war ja ganz nat�rlich, dass ich mit meiner "Art, etwas zu sehen" f�r sie zu allererst die Bedeutung eines "Wahrheitstr�gers" hatte. Sie w�re am liebsten in meine Wahrnehmung geschl�pft und h�tte die Welt gerne so gesehen, wie ich sie sehe. Aber das genau war ja das Problem. Sie empfand die Welt am liebsten so, wie sie andere empfanden, so dass sie sich auch durch andere in dieser Welt empfinden konnte. Sie war dann ganz dabei, bevor sie sich in ihrer Einsamkeit wieder ganz verlieren musste.
So geh�rte wohl auch ich zu der Welt, durch die sie so hilflos war, wie die anderen f�r sie empfindungsm�chtig wurden. Sie wollte an dieser Macht teilhaben, ohne ihre Ohnmacht verlassen zu k�nnen; sie wollte vor Irritation gesch�tzt sein und sorgte sich um die Sicherheit ihrer Empfindungen vor jeder Beziehung, jeder Erregung und jeder Befriedigung – schlie�lich vor dem Schokoladeessen bis hin zum Zigarettenrauchen selbst. Solche Beziehung auf andere ist ein Verh�ngnis, weil sie sich hierin nat�rlich in dem Ma�e verlor, wie sie an Sicherheit zu gewinnen schien. Aber ich musste es zun�chst hinnehmen und zugleich dagegen angehen, indem ich ihr diese "Sicherheiten" verweigerte, so gut es ging. Gl�cklicherweise hatten wir aber ein klares und distanziertes Verh�ltnis, in dem ich zuversichtlich war, dass da nicht auch noch besondere Abh�ngigkeitsgef�hle oder verselbst�ndigte Gef�hle entstehen w�rden.
Das eigentliche Problem, das ich hatte, war die Unwirklichkeit meiner Rolle f�r mich, in der ich zugleich wirklich war f�r sie. Es ist praktisch einfach wichtig, und das nehme ich als reine Tatsache, dass ein Mensch als eine Art �bertr�ger vorhanden sein muss, mit dem man reden kann, der sich nicht mit reinziehen l�sst in alle eigenen Gef�hle und Erregungen und der sich nicht dem Geschehen selbst ausliefert. Das hat nichts mit der psychoanalytischen �bertragungstheorie zu tun. Aber es �hnelt dem, was dort damit beschrieben sein soll: Ich war nicht als verst�ndiger oder vern�nftiger oder wissender Mensch da, nicht als einer, mit dem man mal ratscht oder Probleme w�lzt. Ich war f�r sie da als ein Mensch, der sich permanent selbst zu vergegenw�rtigen hatte, der sein Anderssein betonen musste und sich aus den Gef�hlen heraushalten konnte, mit denen er zugleich zu tun hatte. Ich musste bei Gef�hlen, die ich nicht verstehen konnte, bleiben k�nnen, was ich bin. Das war f�r mich gar nicht so einfach, denn im Wahn wird ja alles Gef�hl �berm�chtig und auch nur dieses empfunden. In einem selbst spielt sich der Wahn quasi umgekehrt ab: Ich hatte den Widersinn in mir als Gef�hl, das wahr zu haben, was ist f�r sie sein musste und zugleich meine eignene Wahrnehmung hiergegen zu bewahren.
Die Schwierigkeit ist dieses doppelt Sein in zwei Wahrheiten. Meine und ihre, das waren zwei Welten, wobei ich mich nach ihrer verhalten musste, w�hrend ich in meiner dachte. Ich verstand meine Betreuung so, dass ich ein Mensch sein musste, in dem Maria irgendeine Wirklichkeit des Gespr�chs oder irgendwelcher T�tigkeiten (z.B. Spazieren gehen, essen usw.) dann noch finden sollte, wo sie sich ansonsten verkrochen h�tte. Sie sollte nicht ihrer Selbstisolation folgen, sollte mit mir nach "drau�en", das sie alleine nur noch f�rchtete. Es ergaben sich so auch Unterbrechungen des "Selbstlaufs" und es zeigte sich auch, dass das Gespr�ch mit mir irgendeine Festigkeit in ihren Alttag brachte, die manchmal auch das "Umkippen" in den Wahn verhinderte. Und auch im Wahnsinn selbst "bot" ich eine Gewissheit, ein Vertrauen, das aus unseren Gespr�chen "davor" sich noch her�bertrug und an der Maria sich noch f�r eine Weile festmachen oder irgendwie orientieren konnte. Es brachte dies zumindest eine Zuversicht, dass jemand da war, mit dem es ein ganz kleines St�ckchen weitergehen konnte – und dass �berhaupt eine Entwicklung geben konnte. Sie hatte bis dahin ja noch nie erlebt, dass sich der Wahn aufhalten lie� – wenn auch nicht dauerhaft. Aber er zeigte sich hierdurch erstmals als etwas geistiges, als etwas, was davon abhing, wie wir zusammensein konnten. Die "Genetik“ der Psychose war hierdurch schnell besiegt und Psychopharma erstmal nur ein notwendiges �bel, ohne dass sie nicht auskommen konnte, weil ihre Erregtheit ihrer Meinung nach sonst �bergross w�re. Aber auch hierin versuchte sie, Bewegung zu erzeugen, in dem sie mit den Mengen nicht so umging, wie verordnet, sondern auch runterging und fr�her ganz absetzte, wie es �rztlich empfohlen war. Gl�cklicherweise hatte sie noch einige andere Kontakte und von daher auch gen�gend sozialen Beistand und Bezug, so dass meine Rolle nicht allzu schwer wurde.
Schlie�lich war ich ja f�r sie wohl eher ein fremder Mensch, der das seltsame Interesse hatte, ihr zu helfen, weil er sich mit seinem Beruf auseinanderzusetzen hatte. Dennoch war ich in allen ihren sonst nebeneinander gelebten Momenten und im Gef�hlschaos selbst als eine neue Best�ndigkeit in ihrem Leben "vorhanden": In ihrer Euphorie, in Ihrer Depression, in ihrem Wahn, in ihrer Angst und in ihrer Liebe. Ich war ein guter Freund und ihr zugleich fremd, zumindest war ich in irgendeiner Weise sprachlich immer gegenw�rtig als jemand, mit dem sie reden konnte. Die sonst nebeneinander bleibenden Stimmungen und die isolierten Erlebnisse fanden deshalb im Gespr�ch und im Beisammensein einen irgendwie gearteten Zusammenhang durch die 'Tatsache" meiner Gegenwart. Und dies bewirkte Pausen in der Verwirrung und manchmal – und das war viel wichtiger als die Pausen – die Erfahrung von Voraussetzungen, durch die sie zum "Kippen" gebracht worden w�re, wenn sie in ihrer Isolation geblieben w�re. Sie erfuhr auf diese Weise, dass es wirkliche Bedingungen gab, unter denen sie "austickte". Da musste nur ein Zeitabschnitt �berblickt werden – und hierf�r war ich das "Notizbuch". Ihre Geschichte hatte eine ungl�ckliche Symmetrie zwischen Verunsicherung, Gef�hlen zu M�nnern und dem Wahn, wobei ich erstaunt feststellte, dass sie nicht durch die Gef�hle zu M�nnern verunsichert wurde, sondern dass sie solche Gef�hle erst bekam, wenn sie schon verunsichert war.
Wenn Maria verunsichert war, so kamen ihre Stimmen nicht auf einmal und voll und ganz. Sie schlichen sich so langsam in das Leben ein. Sie kamen auch nicht aus einem Erregungsschwall heraus, sondern raunten – zun�chst schwer verst�ndlich – im Hintergrund und traten dann immer deutlicher auf. Wenn wir in solchen Zeiten zusammensa�en, sagte mir Maria immer auch gleich, wenn sie Stimmen w�hrend unseres Gespr�chs h�rten. So entdeckte ich zun�chst, dass die Stimmen in ihr sich dann einstellten, wenn sie eine Situation nicht so richtig auffassen konnte, ohne dass es f�r sie irgendeinen sp�rbaren Anlass f�r ihre Unsicherheit gegeben h�tte. Aber er war da. Es waren immer Situationen, in denen sie "nicht wusste, wie sie dran war“. Wenn ich irgendwie "undeutlich" war, wurde sie vielleicht misstrauisch und h�rte es – ich wei� es nicht genau. W�hrend wir noch aufmerksam miteinander sprachen, konnte sich ein "anderes Verh�ltnis" einschleichen. Wenn wir ohne sie in der Wohngemeinschaft etwas besprachen und ihr die Verh�ltnisse nicht sicher waren, so glaubte sie schnell, dass wir �ber sie sprachen. Und es stellte sich auch heraus, dass die Unsicherheit irgendeiner vorangehenden Distanziertheit entsprungen war, sei es, dass unsre eigenen Sorgen in den Vordergrund traten oder Dinge besprochen wurden, die sie nicht verstand. Aber was als nat�rlich aufgefasst werden konnte, war f�r sie unfassbar. Wenn sie es �berhaupt so empfand, dann hatte sie immerhin das Vertrauen, es besprechen zu k�nnen. Und siehe da: Sobald ihr die Lebenshintergr�nde der anderen verst�ndlicher wurden, war ihre Stimmung auch schon wieder "ganz da“ und die Stimmen weit weg.
Man kann dar�ber streiten, woher ihre Verunsicherung kam, ob sie durch die Verh�ltnisse selbst kam oder ihnen vorausging und darin nur Ausdruck fand. Solcher Streit ist aber v�llig unsinnig, weil ein Anlass immer nur ein Anlass ist. Was alles sonst in einem Menschen vor sich geht, hat nat�rlich immer mit ihm und seiner Geschichte zu tun und es ist eine reine Scholastik, sich in einer konkreten Situation �ber Werden und Vergehen zu streiten. Beides ist nat�rlich wahr, weil die Wahrheit immer nur dies beides sein kann. Aber die Gegenwart war so wirklich, wie sie nur sein konnte und deshalb war eben auch beides in ihr wirksam. Das Wichtigste f�r uns alle war die Anerkennung dieses Verh�ltnisses, dass es eben nur so sein konnte, wie es ist.
Meist war es so, dass unsere Stimmen ihre "Stimmen" unterbrachen. Ich merkte, dass sie nur in ganz bestimmten Stimmungen und in ganz bestimmten Umwelten mit ihren Stimmen verschwand. So auch in der �ffentlichkeit: Wenn wir z.B. in einem rigiden b�rgerlichen Caf� sa�en, dessen �sthetik der muffigen 60ger Jahre-Biederkeit entsprach, so h�rte sie die "Klatschweiber", wie sie es nannte. Es war eine Art Meuchelwelt, die sich hinter allem verbarg. Ebenso ging es ihr manchmal, wenn wir nur an einer Gruppe von tratschenden Hausfrauen vorbeigingen. Es war aber immer dieselbe Welt, die ungef�hr – wie bereits gesagt – dem Hausfrauenmilieu einer Vorstadt entsprach, in dem das Gerede �ber die Leute die Verh�ltnisse bestimmte. Und dort war sie ja auch gro� geworden.
Sie fing manchmal auch dann zu "schweben" an, wenn sie in gr��eren Menschenkreisen war, die f�r sie durch einen Gemeinschaftsritus oder einen abstrakten Gemeinsinn verbunden waren, z.B. in der evangelischen Studentengemeinde oder auf Tagungen, zu denen sie von Berufs wegen ging, auf Freizeiten, wo sie Kontakte suchte und auf Wochenendgeselligkeiten, die f�r sie einen rein erlebnishaften Sinn haben sollten. In der Studentengemeinde hatte auch unsere Organisation ihr B�ro und ich war oft in deren Gruppen zugegen. Mir war es nicht fern, das "Schweben" zu verstehen, weil dort alles schwebte und jeder sehr hohe "emotionale Erwartungen" hatte. Maria war gerne unter diesen Leuten und machte auch bei thematischen Treffen ernsthaft mit.
W�hnungen, Wirkungen und Umst�nde
Insgesamt ergab sich f�r mich der Eindruck, dass Maria in Krisenzeiten unter der Empfindung von Gef�hlsanspr�chen leise zusammenbrach und vollkommen verunsichert wurde. Ob die Anspr�che als Anspr�che wirklich waren oder nur so empfunden wurden, ist f�r mich gleichg�ltig, weil es immer dies Gemenge aus Subjektivem und Objektivem ist, das verunsichert. Jedenfalls war entscheidend, dass sie hierbei ihre Gegenwart verlor. Sobald sie eine Welt wahrnahm, die ihr Selbstgef�hl positiv oder negativ ansprach, entweder als Bedrohung (Klatsch) oder als Forderung (Liebe), so war sie vollkommen bedr�ngt. Sie war dann so schnell auf der Seite derer, die das taten, dass sie nicht einmal selbst merkte, wie sie dabei verschwand. Sie war sofort von sich weg und hatte sich dann sozusagen alleine in den Stimmen, die sie h�rte. Sobald sie den Gef�hlen anderer Menschen folgte, verlor sie sich und erlebte sich unter deren "Fuchtel". Sie war f�r sich selbst zu, weil sie au�er sich war und sie h�rte, was jene �ber sie dachten, in deren Gef�hlswelt sie eingeschl�pft war.
Aus ihren Erz�hlungen ergab sich f�r mich auch, dass sich Stimmen unmittelbar und ohne eine vorhergehende Stimmung dann einstellten, wenn sie Menschen wahrnahm, die rein �sthetisch dem entsprachen, was sie an Rigidit�t und Hinterh�ltigkeit bereits erfahren hatte. Es war wie eine �bersprungene Stimmung, die sie in ihren Stimmen wahrnahm. Oft gen�gte bereits das Reden hier�ber und das Vergewissern �ber das, was da abgeht, um die Stimmen aufzuheben. Von da her waren die Gespr�che mit mir f�r sie erst mal praktisch eine Entlastung von den Stimmen, denn die stellten nichts anderes dar als das, was bei einem anderen Menschen Stimmungen sind, die er hat, wenn er in einer bestimmten Umgebung ist.
Anders war es mit den W�hnungen von Verfolgung. Die traten erst nach einiger Zeit auf, wenn sie selbst seelisch tiefer angesprochen war, wenn also Gef�hle anderer Menschen in sie hineingeraten waren. Die W�hnungen waren offenbar das Resultat einer Bewegung in ihrer Gef�hlswelt. Meist war das ja auch mit Beziehungen verbunden, die sie in dieser Zeit hatte, und die selbst schon vielerlei Ungewissheiten enthielten. Aber im Grunde war es auch hier �hnlich, wie mit den Stimmen: Ihre Gef�hle hatten ihre Selbstgewissheit aufgehoben – nachdem sie schon selbst in ihrer Ungewissheit bestanden hatten. Im Unterschied zu den Stimmungen waren diese Gef�hle der Verfolgungsangst jedoch wirklich etwas Inneres, eine Art von fremdem Selbstgef�hl in sich selbst, nicht etwas, was sie wie �u�eres h�rte. Sie dr�ckten eine eigene und zugleich negative Aktivit�t aus, die sich in ihr regte und die sie verfolgte. Wie anders soll sie sich das auch erkl�ren k�nnen? Es waren nicht ihre Gef�hle; es waren die der anderen. Ausl�ser waren auch hier meist Verh�ltnisse, die in einer allgemeinen Nettigkeit stattfanden und von daher im einzelnen f�r sie undurchschaubar waren. Sie war ja gerne die Netteste von allen. Da wurde sie mit ihrem ganzen Leben in eine H�he gehoben, die sie zun�chst euphorisch machte, um dann – wenn sie allein war – in Todesahnungen hinabzust�rzen. Immer dann fing sie auch an, sich an jemanden verschuldet zu f�hlen. Die Ahnungen besch�ftigten sich mit ihren Schuldgef�hlen und boten meist reichhaltigen Stoff hierf�r. Sie waren die Umkehrung der Euphorie, etwa wie depressive Stimmungen oft die Umkehr von manischen Stimmungen sein k�nnen (von daher wurde sie vielleicht auch mit dem Etikett "manisch-deppressiv“ beklebt).
Ich versuchte, das als Fragestellung nachzuvollziehen. Schuld entsteht durch etwas, das man bringen muss. Was in der Euphorie �ber allem steht, ist unter allem nur Versagen. Dass man das auf Dauer nicht bringen kann, was in der Euphorie erlebt wird, erkl�rt eine Bringschuld. Aber was der Sinn der Schuld ist, das muss etwas g�nzlich anderes sein. Hier aber erschien er als ein und dasselbe. Es muss einen Grund geben, warum Euphorie sich verselbst�ndigt, warum ein Mensch sich dahin entzieht und den Entzug seiner selbst nur durch einen tiefen Absturz wieder wahrmacht. Kennen tut das ja jeder Mensch. Er muss nur mal auf ner tollen Party gewesen sein – und schon hat er das Dilemma, anderntags wieder voll sachlich sein zu m�ssen. So einfach diese Erkl�rung klingt, so unsinnig ist sie: Warum sollte ein Mensch sich verlieren, nur weil er gegensinnige Stimmungen nicht zusammen bekommt? Den Grund hatte ich noch lange nicht erkannt. Zun�chst konnte man es ja auch einfach verstehen: Solange Maria unter Menschen war, f�hlte sie sich von sich frei und opferte ihre Gegenw�rtigkeit dem Allgemeingef�hl. Sie ging darin auf, und fiel hernach zusammen. Die Anwesenheit anderer Menschen gab ihr eine Sicherheit, die f�r sie keine war, die ihr aber half, nicht f�r sich sein zu m�ssen. Entscheidend hierbei war jedoch, dass sie sich schon in der Anwesenheit der Menschen verloren hatte, dass es durch sie gerade nicht die Sicherheit gab, die dort w�hnte. Das war der Wahnsinn: Sie war gar nicht auf der Party, sondern im Gef�ngnis. Sie wurde nicht emporgehoben, sondern in einen Abgrund gesto�en, w�hrend sie mit Menschen zusammen war und sich dar�ber freute. Und das erfasste sie nicht.
Mir schien es erst mal das Problem ihres Wahrnehmungskreislaufs zu sein, der nicht vollst�ndig mit ihr verbunden war, der so etwas wie "L�cher" hatte, die mit einer Gleichschaltung von Gef�hl und Selbstgef�hl gestopft wurden. Wenn dieser Kreislauf so zu beschreiben w�re, dass ein Mensch sich in einem Kreis von Menschen einfindet, sich dort gut oder schlecht oder sonstwie f�hlt und hermach mit all dem wieder zu sich kommen muss, um sich wieder f�r sich zu fassen, vielleicht dar�ber zu gr�beln, denken usw., so ist hier das F�hlen im Kreis der Menschen nur das Gef�hl, dass jemenad von seinen Gef�hlen hat: Pures Selbstgef�hl im Kreis der Gef�hle. Auch das gibt es �fters. Aber nicht jeder muss sich hiervon in dem Augenblick abschotten, wo sich die Gef�hle nicht fassen lassen, die das Selbstgef�hl begr�nden. Nicht jeder braucht unbedingt ein so starres Selbstgef�hl. Maria verfiel ihren Gef�hlen ja nicht, wenn sie diese schon im Vorhinein im Griff hatte, wenn sie sich einer Definition unterordnen konnte oder wusste, wie sie eine bestimmte Situation umgehen konnte oder schon kannte, wie sie sich darin zu verstellen hatte. Jeder kennt vielleicht die Notwendigkeit der Verstellung und Selbstbeherrschung. Aber Maria verlor gerade hierbei den Verstand. Irgendjemand hatte mal geschrieben, dass der Wahnsinnige nicht l�gen kann. Es m�sste andersrum hei�en: Nur im Wahnsinn wird die L�ge obsolet.
Die meisten Menschen halten die Kultur der Selbsts�chtigkeiten dadurch aus, dass sie ihre Selbstgef�hle genie�en und gegen andere abschotten. Der wechselseitige, der zwischenmenschliche Gebrauch der Gef�hle zum Zwecke der Erbauung, der seelischen Befriedigung und Genugtuung oder zur Einvernahme als Bestandteil der Selbstwahrnehmung (Triebbefriedigung, Selbstbefriedigung) wird zur Gen�ge in den Unterhaltungsmedien dargestellt. Wer sich hiergegen in der Wirklichkeit nicht abgrenzen kann, ist arm dran. W�hrend andere ihn l�ngst in ihrem Wahrnehmungskreislauf nutzen und vernutzen (leer laufen lassen), sucht er noch eine menschliche Beziehung auf sie.
Mit Wahrnehmungskreislauf meine ich einen Prozess der unterschiedlichen Wahrnehmungen von Empfindungen und Gefühlen, die in einer Wahrnehmungsidentität so münden, wie sie darin seelisch verbunden sind, wie sich also Empfindungen und Gefühle in einer Psyche zusammenfinden. Alle fremd bestimmten Gefühle, also Gefühle, die einem fremden Zweck gehorchen müssen, erzeugen eine seelische Verselbständigung, die wie eine eigene Kraft in der Wahrnehmung solange wirkt, bis sie wieder seelisch ausgegrenzt werden. Solange stören sie auch die Abläufe der Wahrnehmung. Empfindungen können sich nicht mehr so umsetzen, dass der betroffene Mensch aus ihnen heraus tätig werden kann. Sie enden in Gefühlen, in denen sie auch blieben als das, was sie in der Empfindung eben wahr hatten. Fremder Sinn spielt sich in der eigenen Wahrnehmung so ab, dass sie nur noch Wahrheit suchen kann, ohne sie zu finden (das löst das Rätsel mit der Unfähigkeit zur Lüge!). Es ist ein beständiger Zweifel der seelischen Identität, der zwischen fremder und eigener Wahrheit verläuft. Hierdurch wird die Wahrnehmung zu einer inneren Wahrheit: Sie nimmt wahr, was sie wahr hatte, ohne zu wissen, was hiervon ganz wahr oder ganz falsch aufgefasst wird. Vergangene Wahrnehmung bestimmt die gegenwärtige und die zukünftige wird sowohl Vergangenes wie Gegenwärtiges in einem bestätigen. Wo dies zur Gewohnheit geworden, ist die Verunsicherung perfekt: Die Erwartung der Ungewissheit macht schon die Wahrnehmung und ihren Anspruch aus. Oder anders formuliert: Was in der Empfindung gegenwärtig, ist im Gefühl Vergangenheit und Zukunft zugleich, vergangenes Leben wie zukünftiges, Wissen und Erwartung. Erwartet werden kann hierin aber nur der Untergang, der Selbstverlust.
In der Verselbst�ndigung und Selbst�ndigkeit drehte sich die Wahrnehmung von Maria um so vieles, dass sie sich selbst damit ersch�pfte, f�r sie sinnlos wurde und ihr die Kraft nahm, weil es dies alles in einem war: Lebensangst. Ihre eigene Wahrnehmung wurde zu einer ungeheuren Last und bedr�ngte sie in einem fort. Das Loch ihrer Wahrnehmung war ein Brunnen, in den sie fiel, wie in eine Depression. Und daf�r gab sie sich selbst eine Schuld, die nicht leicht zu verstehen war. Jedenfalls war das Schuldgef�hl ihre Br�cke zur Welt, die Leiter, mit der sie sich wieder hochhangeln wollte. Es ist ein Leichtes, sich die Schuld f�r einen Absturz zu geben, um damit die Welt hiervon zu entlasten, um also wieder "dabei" zu sein. Das klappte aber nicht immer.
Wenn die Schuldgef�hle sich vertieften, dann entstanden W�hnungen. Sie machte sich "einen Reim" darauf, was mit ihr geschah. Was f�r andere vielleicht Stimmungen w�ren, war f�r sie ein Raunen des Ungewissen. Dann kippte ihre Wahrnehmung zu dem Sinn um, der in den W�hnungen steckte und der durch die Stimmungen beherrscht wurde, die sie anderen unterstellte: Missgunst, Niedertracht und Verachtung. Wer dann sprach, das waren immer wieder dieselben Klatschweiber, die Vorstadtweiber an den Gartenz�unen, die ihren Frust mit Mobbing und sexuellen Fantasien beherrschten, um ihrem Nachbarn das Monster zu �berweisen, das sie in sich f�rchteten (1). Sie formulierten f�r Maria die fremden Stimmungen als Stimmen, die ihr �bel wollten.
Ihre Reden wurden dann aber von Maria nicht mit Angst oder Zweifel aufgenommen, sondern als Macht, die sich zu einem Verfolgungssystem entwickelte. Die Fernsehkameras in ihrer Wohnung dr�ckten nichts anderes aus als den Willen, der in einfacherer Form im Klatsch steckt. Und die Gewissheit einer objektiven Verfolgung erleichterte subjektiv die unendlichen Schmerzen des Zweifels in ihrer Wahrnehmung, das Irren und Schweben und St�rzen. Mit einem Schlag war die Welt umgekehrt und wieder leichter als zuvor, wenn es klar war, dass Maria durch ein kompliziertes System in die Irre geleitet wird und sie sich systematisch dagegen wehren muss.
Ein System ist wieder in einer eigenen Weise erkennbar, berechenbar und man kann hierzu auch Stellung beziehen, weil ihm ein klarer Zweck, wenn auch als ein monstr�ser Sinn unterstellt wird. Bei Maria war das System ein Komplex fremden Argwohns, der sie mit mehr oder minder gro�em Recht verfolgte. Auch ich war dann in das System einbezogen als ein Mitverschworener, der in �hnlicher Weise verfolgt wird wie Maria. Von daher hatte auch ich im Wahnsinn selbst eine Rolle. Ich kam mir vor wie in einer Sekte, die mit solchen Wahnsystemen Zusammenhalt stiftete. Ich zeigte ihr zwar immer, dass ich ihrer Logik nicht folgen konnte, doch das war f�r sie ohne Bedeutung: Ich konnte das ja nicht verstehen. Aber sie wollte mir gerne dabei helfen.
Die "Erleichterung", die der Wahnsinn hat, ist, dass das nur Gew�hnte einen Sinn findet, dass also die unendliche Unwirklichkeit des schuldhaften Ahnens und W�hnens, die endlose Selbstbezichtigung und der schrankenlose Zweifel vorbei sind. Im Wahnsinn bilden die Sinne nicht nur ihr Eigenleben, sondern auch ein wirklich eigenes Leben, wirklich eigene Gestaltungskraft mit unwirklichen M�chten, wache Tr�ume in der vielfachen Bedeutung von Wirklichkeit: Wirkungen auf einen Menschen, Gef�hl f�r eine Ursache und die Gewissheit eines Grundes. Der Grund f�r die Gef�hle von Maria sind dann die Stimmen der Klatschweiber, die sie nicht in Ruhe lassen wollen. Sie wei� durch sie, dass ihre Regungen "falsch" sein sollen, und kann sich darum um so sicherer auf sie einlassen. Die Weiber, das sind die anderen. Die Ursache ihrer Angst sind jetzt die vielen Kameras, die sie beobachten. Wer wird da dahinter stecken, wer will wissen was sie tut? Und warum? Die �ffentlichkeit hat sich ihrer bem�chtigt, weil sie sich nicht mehr verstecken kann. Aber umgekehrt ist dann doch klar, wer sie ist. Sie wei� sich ihrer immerhin dadurch gewiss, dass sie gesucht und verfolgt wird. Der Selbstzweifel ist aufgel�st, nicht mal mehr Zwiespalt, sondern vollkommener Gegensatz von fremder Welt und eigenener Welt. Und schlie�lich ist sie auch in einer irgendwie vergifteten Welt, in der ihre Sinne nicht ausgereicht hatten, um zu schmecken, ob etwas gut oder schlecht ist. Aber im Wahn ist es schlecht. Das ist jetzt sicher und damit l�sst sich ja dann auch leben. Frau muss halt vorsichtig sein. Das Gift, die Kameras und die Waschweiber werden zu einer Gestalt der Bedrohung und Verfolgung, damit ihre Selbstentfremdung �berhaupt erkennbar wird.
Maria ist dann ganz sie selbst. Sie hat sich erfolgreich von der Last der Wahrnehmung getrennt. Sie ist dann auch �u�erlich ver�ndert. Ihre Augen sind kindlicher, beseelter, forschender, misstrauischer und ein bisschen schalkhaft. Eigentlich ist sie dann ganz sie selbst, ein Kind mit allen Erwartungen des Lebens. Es war dann auch so, als ob sie pl�tzlich ein ganz bestimmtes Verh�ltnis zu mir hatte und ihren Zuneigungen genauso freien Lauf lassen konnte, wie ihren �ngsten und Abneigungen. Sie f�hlte sich dann sicher und war �berschwenglich ehrlich – so, wie ich sie sonst nicht kannte. F�r mich war das oft wie ein Kampf um mein eigenes Wirklichkeitsverm�gen – ihre Wahrheiten waren wie ein Sog in eine Welt, gegen die ich mich zu wehren versuchte und nicht immer konnte. Sie machte mir oft auch Angst (8). Alles, was ich tat, wie ich reagierte und was ich sagte, war Gegenstand ihrer Interpretationen, durch welche sie eine Wirklichkeit hatte, die sie nicht mehr suchen musste – und auch eine Wahrheit, die ich in keiner Weise bestreiten konnte. W�ren wir in eine gef�hlsm��ige Liebesbeziehung geraten, wir w�ren beide verloren gewesen. Die Gewissheit, dass dies nicht sein wird, dass unsere Welten so weit auseinander lagen, dass meine Gef�hle sie nicht betreffen konnten und ihre nicht mich, war f�r mich dabei sehr wichtig.
Die Ruhe des Wahnsinns w�hrte aber immer nur kurz. Maria war zeitweise v�llig beseelt von ihrem Leben, konnte aber im n�chsten Augenblick, wenn sich irgendein Zweifel zu r�hren begann, in schwere Depressionen st�rzen. Es trieb sie schlie�lich auch manchmal dazu, sich doch in der Klinik einzufinden, weil sie Angst vor ihren Selbstvernichtungsw�nschen bekam und auch tats�chlich dabei oft �ber Selbstmord nachdachte. Auch der Wahn ist eine Frage der Kraft, die hierf�r �brig ist. Schw�che ist dann Abstumpfung, Siechtum und Elend.
Der Zwiespalt ihrer Sinne war aber nur das Dasein ihrer zwiesp�ltigen Beziehungen, Liebe, die sich selbst bedroht, wenn sie sich in anderen Menschen verwirklicht, wenn sie ihre Wirkungen in anderen hat. Die Liebe, welche Welten, Gef�hle und Lebensformen erzeugen kann, die dem eigenen Erkenntnisverm�gen zuwider l�uft, mag eine zwiesp�ltige Liebe sein, aber es war auch ihre einzige Liebe, ihre Lebensverstrickung und von da her ihre Wahrheit. Hierin ist ihr Zwiespalt lebendig und zugleich gel�st in der Macht des anderen, in der Zweifelsfreiheit des Geliebten und der Zweifelsschuld des Liebenden. Der Zwiespalt erscheint so aufgel�st im Gegensatz, in der Macht des Wirklichen und der Ohnmacht des Wesentlichen. Und so sieht sich jedes Wesen an seiner Wirklichkeit schuldig wie ein Kind gegen�ber der Liebesmacht der Eltern. Das Verr�ckte ist der Sinn dieses Zwiespalts, der einen Menschen an seinem eigenen Leben schuldig werden l��t, schuldig eben in dem Sinn, da� er die Welt nur so erkennt, wie er sie auch in seinem Handeln vollzieht. Aber diese Erkenntnis ist gerade die unschuldigste Gegenwart, die ein Mensch in Wirklichkeit haben kann. Er f�hrt alle Kriege nur gegen sich und alle Zweifel hat er in sich und gegen sich selbst. Das so ungewisse und doch wirkliche Leben dr�ckt sich fast nur in der Selbstbezweiflung, als Leben mit zweif�ltigen Sinnen und doch einfacher Bedeutung aus. Es ist ein best�ndiger Kampf um die Wahrheit, �ber das, was die Sinne beisammen h�lt Und diesen Kampf kann ein Mensch nur f�r sich und ganz alleine f�hren. Ich verstand mich hierbei zwar als Mitarbeiter, als einem, der mit ihr den Wahnsinn erkennen wollte, war aber zugleich auch ganz praktisch ein �berlebensgehilfe, der eben dabei sein musste und wollte, ohne wirklich helfen zu k�nnen, der selbst vieles davon kannte und sich damit, und nicht "nur“ mit der Person von Maria, in einer wichtigen Auseinandersetzung befand. Das wusste sie auch.