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5. Der entgeisterte Sinn

Die Trennung der seelischen von der sinnlichen Wahrnehmung verrät vor allem ein seelisches Streben, welches diese Trennung im Sinn hat. Es wäre daher besser, dem einen eigenen Namen zu geben (was in diesem Text allerdings nicht durchgehalten wird): Psyche.

Die Psyche nährt sich aus dem Gegensatz der Wahrnehmungen, also daraus, dass sie Gegensinniges lebt, um sich beisammen zu haben. Sie vervollständigt ihre Identität durch die Bewegung in diesem Gegensatz ihrer Empfindungen, indem sie diese überhaupt nur noch fühlt, sich in einem gemeinen Selbstgefühl von ihrer eigenen Sinnlichkeit, von der Eigenständigkeit ihrer Sinne löst. Sie lebt das Getrennte durch sich als eine Wahrnehmung, die zwischen Sinnlichem und Seelischem springt – manchmal auch zwischen mehreren Psychen (z.B. als "multiple Persönlichkeit“).

Natürlich will sie das nicht; die Psyche kann zwar die Wahrnehmung beherrschen, aber sie ist kein Herrschaftsinstrument und hat durch sich selbst keinen Zweck, der einer äußeren Macht entspringt. Sie stellt nur deren Wirkung als eigene Notwendigkeit dar, als seelische Notwendigkeit. Man muss es daher jetzt umgekehrt formulieren, subjektiv: Weil ein Mensch immer alles in sich trägt, was ihn wahrnehmen, erkennen, sein lässt und weil alles andere er nicht ist, also fremder Stoff, fremder Sinn usw., hält er sich in einem Zustand der Entfremdung dergestalt beisammen, dass er die Verbindung seiner Sinne trennt. Wenn der eine Sinn (z.B. Geschmack, Gehör, Liebe, Häuslichkeit usw.) nichts vom anderen weiß, so kann er ihn auch nicht mit seinem Wissen stören. Jedes Wissen gründet auf der Selbstgewissheit der Sinne, auf der gewissen Wahrnehmung, welche wiederum auch nur durch das Zusammenwirklen der Sinne entsteht. Man kann sich einer Empfindung nur dadurch gewiss sein, solange sie einer anderen nicht widerspricht. Vom Standpunkt eines Sinnes, den eine solche Störung bedrohen würde, betreibt die Psyche eine Notlösung mit einem zweifachen Resultat: Die Sinne funktionieren in ihrem Getrenntsein so, dass sie alle Empfindungen auch zur Psyche bringen; aber geben für sich ihre Gewissheit auf. Sie opfern ihre eigene Tätigkeit, ihre Kreativität und spontane Selbstgewissheit der Notwendigkeit ihrer Trennung. Durch die Trennung ihres Zusammenwirkens, durch die Entfremdung der Sinne voneinander, wird die Tätigkeit der Sinne, ihre Empfindungen und Einfälle, entgeistert. Ein Mensch, der im Zustand der Selbstentfremdung leben muss, der kann dies nur, indem er seine Sinne entgeistert.

Was objektiv ein Machtverhältnis war, wird daher subjektiv zu einem Zustand entgeisterter Sinnesmächtigkeiten. Was für uns hierbei deutlich geworden ist: Die Psyche unterscheidet sich ganz gewaltig vom Geist, den ein Mensch hat. Nur dadurch, dass wir ihr Wirken kritisch sehen, konnte das klar werden. Es ist der Kern meines psychologischen Wissens, dass die Psyche eine geistige Entfremdung, eine geistige Abtötung darstellt. Und das heißt umgekehrt, dass Geist durch die Kritik der Psyche lebendig wird – allerdings nur, wo er seinen Sinn nicht verlässt, sondern wo er ihn befreit (38).

Ein entgeisterter Sinn muss eigentlich nur solange bestehen, solange der Zustand der Selbstentfremdung nötig ist, solange also die Bedingungen dieses Zustandes auch wirklich existieren. Aber dies zu erkennen macht einige Schwierigkeit: Selbst wenn es zu sehen, zu spüren usw. ist, dass sich ein Mensch durch Selbstentfremdung unterwirft und dass diese Unterwerfung durch seine Lebensbedingungen (z.B. Ehe, Familie, Beruf) erklärlich ist, ist er nicht nur deren Opfer, sondern auch deren Subjekt. Er hält sein Leben subjektiv darin zusammen. Krisen entstehen daher auch meist erst durch die Störung solcher Existenz. Aber auch dann ist das Streben nicht einfach. Man kann im Zustand der Selbstentfremdung sein bisheriges Leben nicht einfach sein lassen, als ob man sich einfach "mal neu umschauen“ könnte und neues finden würde, also neue Empfindungen durch ein neues Leben bekommen könnte. Alles hat seine Geschichte und sein Sein und so kann jede erneuerung nur aus der Aufhebung des Alten erfolgen.

Dies wird dann besonders schwierig, wenn ein solcher Mensch nicht nur einer selbst gegründeten Existenz entwachsen muss, sondern seiner Herkunftsfamilie. Entgeistigte Sinne beharren auf ihrem Fürsichsein, weil ihr Getrenntsein nicht nur objektiver Not entspringt, die auch nur passiv nachvollzogen wird, sondern weil ihnen die Verbindung zur eigenen Sinnlichkeit Angst macht: Ihnen fehlt der Geist des anderen und sie fürchten daher auch ihre eigene geistige Identität, solange sie diese nicht in sich erkennen. Sie haben eine ungemein konservative Kraft, weil sie Anderssein gar nicht kennen und subjektiv gerade dann um sich fürchten, wenn un wo objektiv ihre Befreiung ansteht.

Ihren Geist erkennen sie für sich nur in der Negation. Aber nach dem Motto: Lieber arm dran als Arm ab sind sie lieber stumpf als dass sie ihre Stumpfen zeigen. Es macht sie eher eitel als dass sie darüber lachen könnten. Sie wollen nichts zur weiteren Geschichte beitragen; über sie kann nichts werden, solange sie ihre Negation nicht erleben müssen. Und die gibt es nicht als einfaches Anderssein, aber sie besteht in der Verwirrung, in dem seelischen Störfeuer der Erkenntnis. In dem Sinn, in welchem es gestört wird, besteht der Grund der Selbstentfremdung. Die Stimmen bezwingen die Wahrnehmung durch Schuldbezichtigung. Sie wollen ein Gehorchen erzeugen, das nur den Sinn haben kann, dass die Sinne, welche die Inhalte für die Stimmen eingebracht hatten, die Regungen und Gefühle, die zur Verwirrung kommen, entgeistigt und vom Geist eines Menschen ferngehalten werden. In ihm bleibt somit abgeschlossen und vergittert, was außer ihm nicht zu schaffen ist. Der Geist erkennt, was die Psyche nicht duldet, aber die versteht zugleich auch als einzige Erkenntnisform desselben Menschen, warum ein Gefühl gegen sie steht. Sie ist selbst im Keller und isoliert, aber sie enthält die Sinnesgeschichte eines Menschen als inneren Sinn, der nicht überwunden werden kann, solange keine neue äußere Geschichte so ablaufen kann, dass dieser Mensch sich geistig mit diesem entgeisterten Sinn verbunden erkennt.

Die Befreiung hieraus ist daher ein Pakt mit dem Teufel: Man muss sich auf das einlassen, was einen umbringt. Aber den betreibt man ja eigentlich sowieso schon die ganze Zeit. Man weiß es nur nicht. Es geht also auch um Wissen, durch das erst Gewissheit erschlossen wird. Solches Wissen ist keine theoretisch existente Wahrheitsbehauptung, sondern ein sich bewährendes Verhältnis von Gewissheiten, die sich so nach und nach bilden. Der Psychologe oder die Psychologin kann dabei lediglich ein formelles Vorwissen haben, das die Chancen dieses Bildungsprozesses erhöht und unnötige Irrwege abweist. Auch dieses kann nur aus dem Menschwertdungsprozess des Psychologen hervorgegangen sein. Ist also auch kein "Mehrwissen“, dem man einfach nur folgen müsste, sondern begründet sich aus einfachstem Vertrauen in seine bzw. ihre Person.

Das Verhältnis, das Psychologie in diesem Entfremdungszusammenhang eingeht, kann nicht psychologisch sein, wenn sie sich einmischt. Es ist als Schutz vor den Wirkungen der Psychen zu verstehen. Der Psychologe oder die Psychologien zeichnet sich einzig durch die Kritikfähigkeit aus, die gegen die Selbstentfremdungsmacht der Psychen steht, bzw. gegen ihr Reproduktionsbedürfnis von Selbstentfremdung. Die größte Schwierigkeit darin ist, dass dieses erste kritische Verhältnis in eigener Sache vom praktischen her selbst fremd bestimmt ist. Zunächst braucht man einfach nur seine oder ihre Hilfe. Die Fürsorglichkeit, die hierbei aufkommt, reproduziert das ursprüngliche Verhältnis der Familie zumindest in diesem einen Sinne geistig. Dennoch denke ich nicht, dass die väterlichen oder mütterlichen Inhalte der Fürsorge hierin ähneln. Es ist lediglich das Dasein als Intimus, dem Höchsteigenes anvertraut wird, der hierin eine Affinität hat. Ich war in dieser Rolle praktisch wie eine seelische Rückversicherung und musste da sein, wenn sie aushackte. Das ist neben der sozialarbeiterischen Betreuung aber auch fast die einzige materielle Leistung, die ich zu lesiten hatte. Auch psychologische Arbeit, also die Arbeit im Sinne der Psychologie und ihrer Berufe war nur insoweit nötig, als man die Absichten und Wege der Psyche kennen und hinterfragen können muss. Alles andere – und das war eigentlich auch wirklich fast alles – war mein Dasein als Mensch, der zu verstehen und zu begreifen versuchte, was vorging und war mein ewiges Problem, wie ich mich dazu stellen konnte. Es war eigentlich also wirklich nur menschliches Dasein.

Ich kann deshalb auch in keiner Weise allgemein berichten, was da "therapeutisch“ geschehen war, dass sich ihr Leben vom Wahn weg entwickelte. Es gab keine Therapie. Ich kann nur als Chronist berichten, denn was eine Entwicklung ausmacht, die sich freikämpft, liegt in keiner Bestimmung, die theoretisch zu erfassen ist. Manchmal steckt sie im Alltag, einer besonderen Begegnung (und sei es die mit einem Therapeuten, der sich menschliche Naivität bewahrt hat), oft in der Liebe und manchmal auch in der Kunst oder einer besonderen Welterfahrung (z.B. Weltreise). Hiergegen ist alles hier zu Beschreibende zu trocken und zu knöchern, als dass es für die Erklärung einer Lebensänderung hinreicht.

Dennoch will ich auch als Chronist beschreiben, was sich zugetragen hat und zuträgt. Wozu sonst sollen all diese Gedanken gut sein? Denken ist nicht unbedingt für den nötig, der mitten in einer Geschichte steckt – oft genügt Erfahrung, Intuition, irgendetwas Tun usw. um darin weiter zu kommen. Eigentlich waren die Gedanken nur für mich unabdingbar, der ich vor vielem mir völlig Fremdem stand, das ich verstehen wollte, weil es mir teilweise nahe kam, teilweise fern war, und weil ich Leben und Erkennen so verzwickt ineinander verwoben kennen gelernt hatte, dass ich es auch hier studieren konnte.

Auch bin ich ja Psychologe geworden, um Psychologie zu kritisieren. Und das hatte ich nie theoretisch verstanden. Ich musste die seelischen Zusammenhänge wie jeder Psychologe nachvollziehen, um mich verhalten zu können, um mich auf sie in einer solchen Rolle beziehen zu können, um als leibhaftiger Dolmetscher für sie und doch ehrlich für mich sein zu können. Man gerät sehr leicht selbst zu einem Mittel seelischer Zwecke. Oft war ich selbst an der Kippe, wenn ich in einem Gefühl angesprochen war, dem ich nichts entgegnen konnte. Ich musste wenigstens begreifen, woher es vielleicht kommen konnte und wohin es zielte. Als Maria später alleine wohnte, wurde ich auch manchmal nachts gerufen und musste mich in Situationen verhalten, in denen ich mich eigentlich nicht auskannte, in denen ich jemand war, der ich nicht sein konnte. Aber ich musste etwas tun. Als Alternative stand immer nur der Absturz in die Psychiatrie oder tödliche Verzweiflung.

Psychologie urteilt und beurteilt und entnimmt dem ihre therapeutische Strategie (39). Eigentlich sind es nicht einmal Urteile, wenigstens nicht im ursprünglichen Wortsinn: Ur-Teil. Ein Psychologe oder Psychiater urteilt nicht, er konstatiert. Er nutzt seine Situation, seine Unbetrefflichkeit und sammelt Merkmale (40). Nur sagen die überhaupt nichts über das Leben der Menschen aus. Oder genauer: Sie machen diese Erscheinungen zu einem Subjekt des Urteils und die Menschen zu nichts.

Die Therapie besteht dann aus Konstruktionen, die neue Situationen erzeugt, in der dann mit Sprache, Assoziation, Übertragung usw. gearbeitet wird. Sofern die Sprache trifft, die Assoziation Einfälle erzeugt, die Übertragung reproduziert usw. kann ein Mensch vielleicht sogar irgendetwas damit anfangen. Er kann dabei aber auch in eine ungeheuerliche Irre geleitet werden, wenn der Psychologe all zu sehr urteilt, zu fleißig seine Geschichten in einem anderen Menschen assoziiert oder auch nur zu objektiv ist, um Subjektives sein lassen zu können. Aber was dies dem einen oder anderen hilft oder nicht, beim Wahnsinn funktioniert das alles überhaupt nicht. Das lässt die Chemie der Psychopharmaka eben auch so mächtig sein: Die Not des Faktischen ist oft übergroß und das Wissen hierzu klein und oft auch verfälscht. Das hat Folgen, besonders, wenn das Empfindungsvermögen durch Psychopharmaka kaltgestellt wird.

Ich hatte es anders machen wollen: Ich war einem Erkenntnisproblem auf der Spur, aber einem, das nicht theoretisch, sondern unmittelbar wirklich und praktisch ist. Natürlich musste ich zunächst genauso äußerlich vorgehen, wie es eine Situation verlangt, in der ein Mensch aus einer gänzlich anderen Welt kommt, von einem Verstand erhofft, der ihn gar nicht verstehen kann. Die Reihenfolge der Arbeit, welche die beiden letztlich zusammenführen kann, ist damit auch jenseits von ihnen längst gesetzt, bevor sie sich überhaupt begegnen. Das ist nötig und versteht sich von selbst.

Die erste Arbeit war also auch gewesen, den Sinn des Gewähnten zu entdecken, der im Wahnsinn blind eingegangen war. Es stellte sich heraus, dass er einem Schuldgefühl entsprach, das Maria in ihrer Familie ebenso hatte wie jetzt und das sich in ihren Lebensverhältnissen damals wie heute bestätigte, wiewohl die Lebensbedingungen sich vollständig unterscheiden. Damals war es in ihrer Herkunftsfamilie, heute ist es in ihren Beziehungen als Auszubildende in einer Großstadt. Dadurch, dass dieses Gefühl nicht mehr unmittelbar irgendeinem wirklich vorhandenen Verhältnis entspricht, sondern einem Verhalt, hat es einen objektiven Charakter, der nicht einen einzelnen bestimmten Sinn hat. Es ist ganz im Gegenteil das Gefühl, das in einem Verhältnis aufkommen muss, in welchem ein Sollen allgemein und unbestimmt gesetzt ist. Dieses Sollen wiederum ist objektiv wie subjektiv zugleich: Subjektiv nötig, damit Beziehung entsteht und sein kann, objektiv dadurch, dass Beziehung unter Bringschuld steht, und daher zuleich unerfüllt, negative Beziehung ist. Die Nichtigkeit, welche das Schuldgefühl in der zwischenmenschlichen Beziehung vereint, steckt in der Unerfüllbarkeit, in einer nicht erreichbaren Wirklichkeit der Bieziehung dieser Menschen. Ist sie anfangs noch im Versuch positiv als Hoffnung auf ein Werden, so ist sie mit zunehmender Wirklichkeit zugleich negativ, schwindend in eine Angst, die allem schon vorausgesetzt war und alle Versuche und Versuchungen jetzt ereilt. Sie macht den Grund, warum die Beziehung in ihrem Widerspruch verharrt.

Aber diese Angst ist kein Gefühl. Bestünde sie als solches, so wäre sie auch im ganzen Verhalten bestimmend, nicht nur im Ohr. Und vor allem hätte sie sich auf ihren Sinn befragen lassen. Aber diese Angst existiert quasi nur theoretisch. Es verlangt eine Denkleistung, den Widerspruch solcher Beziehung aus ihrer Wirklichkeit zu erschließen und die Angst darin zwar nicht zu fühlen, aber zu wissen. Es macht überhaupt keinen Sinn, die Beziehung als Gefühl selbst zu verfolgen. Vor allem hat dies keinerlei Geist. Der steckt einzig in der Angst. Im Unterschied zur bürgerlichen Psychologie, wo die Gefühle für sich sprechen und die Verhältnisse nur als Erscheinung von Gefühlsbeziehungen angesehen werden, hatte ich in einem Gefühl überhaupt erst das Verhältnis der Angst zu entdecken, worin Maria sowohl im einzelnen war wie sie auch dieses Verhältnis allgemein verspürte, aber nicht als ein ihr fremdes Verhalten erkannte. Sie verspürte keine Angst, weil es ihr gar nicht eng werden konnte (Angst bedeutet als Gefühl Enge, Angustia). Und sie verhielt sich nicht danach, weil ihr nichts Angst machte. Wie bereits gesagt, löste sie die Angst in einer doppelten Unterwerfung sowohl im Verhalten wie im Verhältnis selbst auf. Die Gefangenschaft darin war ihr recht. Wenn sie nicht darin auch wirklich gewesen wäre. Die Wirklichkeit besteht aus dem ganzen Gefühlszusammenhang, der sich darin dann natürlich auch wieder ausbreitet – nicht als Erinnerung von früher, sondern als Logik der Beziehung. Umgekehrt muss sie ja ihren Geliebten auch die Schuld unterstellen, die sie für sich in solcher Beziehung verspürt. Sie wäre vollständig enttäuscht und desillusioniert, wenn sie entdecken müsste, dass dem gar nicht so ist. Und nur, weil und solange diese Desillusionun unerträglich ist, wird der Schein gewahrt. Der Knackpunkt der ganzen Chose steckt im Selbsterhalt solcher Scheinwelt und der Notwendigkeit, sie in einer bestimmten Lebenssituation auch haben zu müssen, um überhaupt mit Menschen erkennend zusammen zu sein.

Obwohl Maria auf der einen Seite in ganz bestimmten Lebensverhältnissen mit ganz bestimmten Gefühlen gefangen war, hatte sie zugleich für Ihr Leben und für ihre Liebe nichts anderes als eben diese Gefühle, durch welche sie dieselben Verhältnisse wiederum hätte erzeugen müssen, von denen sie ausgegangen war und an denen sie litt. Und das ist ja gerade der Grund der "Krankheit", dass es für einen Menschen nur eine Verwirklichung gegen sich gibt, eine Verwirklichung des eigenen Feindes, den jemand zugleich als scheinbar eigene Welt leben musste. Das Problem jener Verhältnisse, in denen sie abhängig war, ihr Beziehungsproblem, war also zugleich auch ihr Erkenntnisproblem, denn ohne die Durchbrechung jener Gefühle kann sie auch nur die Verhältnisse wieder erreichen, die dem Wahnsinn entsprechen. Sie kannnte sich schon aus, mit dem, was sich an diesem Wissen vorbeischlich. So war es doch das Ziel bürgerlicher Therapie, den Wahn zu beseitigen und das "normale Leben“ ertragen zu lernen, also zu lernen, diese Verhältnisse ohne Wahn, aber eben auch ohne Sinn dieses Leidens, durchleben zu können.

Natürlich hat der Wahn unmittelbar keinen anderen Sinn als den, den er hat. Es ist das Leben, für das es keinen wirklichen Sinn, keine Empfindung gibt. An ihrer Stelle erscheint die Psyche unmittelbar im Gefühl. Sie tritt an die Stelle, welche sinnlich wahrgehabt wird, ohne dass hierfür ein Wahrnehmungsorgan besteht. So besteht das Leben fort als Ahnung, Sehnsucht, Verlangen usw., ohne sinnlich existieren zu müssen. Der Wahn ist von dieser Seite und unmittelbar und praktisch eine Art Überlebensstrategie für sinnliche Konflikte, die sich nicht wirklich aufheben oder auflösen lassen. Insofern sind sie darin mittelbar allerdings auch enthalten – eben durch die Angst, die sie enthalten.

Die Situation ist jetzt erstmals klar: Man ist wirklich entgeistert, wenn etwas auftritt, was man nicht für möglich gehalten hat. Es ist dieser Zustand des Wahnsinns eine wirkliche Form der Entgeisterung. Die Welt war in diesem Sinn nicht für möglich gehalten worden, weil es bisher nur eine Scheinwelt zu dem war, was jetzt gewiss wird. Die Frage nach Änderung dieses Zustands wird so zur einfachen Frage nach der Sinnesmächtigkeit, welche die eigenen Sinne entgeistert sein lässt. Aber um sie zu erkennen, darf keine neuerliche Lebensbehauptung entstehen, keine neue, wenn auch therapeutisch gekleidete Macht eingeführt werden. Jetzt muss es den Moment geben, in welchem der oder die Betroffene wirklich in irgendeiner Weise zu sich kommen kann. Dies ist zum einen eine existentielle Situation: Nur wo die Existenzbedingung des Lebens nicht mehr subjektiv bestimmt, sondern zumindest objektiv "geregelt“ ist, kann überhaupt etwas vom Wahnsinn wahr werden. Zum anderen muss es dem Betroffenen möglich gemacht werden, die einzelnen Gefühle wie z.B. Liebessehnsucht, das Stimmenhören, das Schuldgefühl und das Verfolgungsgefühl auf die Verhältnisse zu bringen, die darin empfunden werden, sie erst mal in diesem Zusammenhang anzuerkennen. Aber das kann nicht durch die Gefühle geschehen – die müssen immer anerkannt sein, was auch immer sie enthalten –, sondern im wirklichen Lebensprozess als Bejahung all seiner Bestandteile. Die Aufdeckung dieser Zusammenhänge war also zuerst theoretisch wichtig, um Sprache zu finden, ein Bewusstsein darüber zu erlangen, dass es Zusammenhänge gibt. Es war dies keine konkrete Erkenntnis, keine Gewissheit und kein Lebensfortschritt, sondern nur insgesamt eine Entlastung für das Gewissen: Der Wahn hat keine Schuld; er hat einen Sinn! Auch wenn das nur folgerichtig zu verstehen war und auch nicht schon berwahrheitet werden konnte, so entwickelte dies das Verlangen und die Kraft, solchen Sinn auch leben zu zu wollen – und irgendwann es zu können.

Es war somit zwar erst mal nur theoretisch möglich, die Selbständigkeit des Gehörs zu relativieren und die Verbindung zur Wahrnehmung überhaupt wie ein Gleichnis zu verstehen, das Lebenszusammenhänge beleuchtet und das vor allem mitteilt, dass all dieses nicht nur fremd ist, sondern auch eigenen Sinn verrät. Das Verstehen der Gefühle des Ohrs, der Verstand des Gehörten also, eröffnet nur dadurch einen Weg zu anderen Sinnen, dass diese eine neue Aufmerksamkeit bekommen. Denn was der eine Sinn verspürt, kann der andere vielleicht irgendwann empfinden. Indem hierbei ein Bewusstsein von erlebten Zusammenhängen entsteht, eine Brücke zwischen Tag und Nacht, wie sie manchmal bei der Traumdeutung erfolgt, dann wird das Leben auch anders erkennbar. Die offene Deutung eröffnet auch Konflikte, die sonst nicht stattfinden, wenn die Deutung von dem Betroffenen ausgeht, an dem alleine sie sich auch als richtig oder falsch erweisen kann. Eine andere Wahrheit gibt es nicht.

Man könnte verkürzt sagen, dass der oder die Betroffene einen Beistand für seine Erkenntnisprozesse braucht, durch einen Menschen, dem diese Erkenntnisse etwas sagen, weil er selbst sein Leben erkennen will. Und Leben erkennt der Mensch nur im Menschen. Zugleich wird solche Erkenntnis von einem Bewusstsein der Verhältnisse getragen, in denen Leben verkannt wird. Das sind wirkliche Urteile, die einen neuen Erkenntnisprozess begründen: Alles hat Sinn, was du tust; also tu nur, was dir Sinn gibt. Somit wird ein gegenständlicher Grund, eine objektive Lebensweise begriffen, die Leben sinnlos macht, wenn man ihr folgt (und welche wohl in die Familienideologie eingegangen war). Das ist die theoretische, die ideologiekritische Bedingung, durch welche die Eröffnung eines eigenen menschlichen Lebens überhaupt erst versucht wird und Selbstentfremdung als überwindbar erscheinen kann.

Es ist dies zugleich der theoretische Grund, dass ein Gefühl, diese Verhältnisse nicht erreicht zu haben, sich also vor allem ihm gegenüber als seinen Mangel zu verspüren, überhaupt kritisierbar wird. Es eröffnet sich somit, dass Verhältnisse der Schuld und Verfolgung wirkliche Verhältnisse sind, Verhältnisse, die begründet sind durch die Menschen, welche darin leben, und dass es einen Unterschied von den Menschen gibt, die daran leiden und jenen, die daran nicht leiden. Denn wenn das eigene Leid aus diesen Verhältnissen begründet erkannt wird, dann wird es nur aus dem Unterschied begreifbar, dass die Verhältnisse selbst daraus bestehen, dass sich darin Menschen wirklich, also wirksam verhalten, deren Leben sich durch jene trägt, die es ertragen müssen. Es ist die Erkenntnis von Macht und Ohnmacht in Verhältnissen, in denen dies nicht erkennbar ist.

Tätigkeit und Leiden machen überhaupt das Verhältnis der Menschen zu ihrer Welt aus, zu ihrem gegenständlichen Leben. Ihre Selbstvergegenständlichung aber betreibt die Rückbeziehung dieser Welt auf sie, die Notwendigkeiten des Existierens: Das existent sein müssen. Es ist festgehaltenes Tätigsein und Leiden, in dem sich die Menschen aufeinander zwischenmenschlich beziehen. Es ist der einzige Unterschied, der hier interessiert, warum jene Menschen, die bestimmte Verhältnisse nicht erleiden müssen, den tätigen Grund dieser Verhältnisse auch verkörpern, ohne tätig zu sein und warum jene, die diese Verhältnisse nur erleiden, allein darin tätig sind, sich in ihrem Leiden aufzulösen. Wie können Leiden und Tätigkeit sich in den Menschen derart verschmelzen, dass nichts außer sich gerät? Wie überhaupt ist es möglich, dass Menschen Verhältnisse verkörpern, vertreten, sichern und schützen, die ohne sie entstehen und bestehen, und worin haben sie hierbei ihre Macht? Es ist doch der abstrakteste Gegensatz von Menschen in einem Lebensverhältnis, wenn die einen ihre oder diese Welt so wollen, wie sie diese haben und auch bestätigen ohne sie zu erzeugen und jenen Menschen, die durch den Sinn dieser Verhältnisse erdrückt werden, ohne dass sie darin überhaupt etwas sind oder darstellen! Die Menschen haben darin noch nicht mal die Funktion, die ihre Existenz abverlangt, und sind doch schon im Widerspruch verfangen. Wie ist all dies, was den Menschen unserer Kultur so zu schaffen macht, überhaupt möglich? Die Antwort steckt schon in der Frage: Eben weil sie darin nicht sind, deshalb bestehen sie auch nur durch die Entgegensetzung ihres Daseins. Es reproduziert sich im nicht und nichtig sein ihrer Sinne um eine Welt zu erhalten, die für sie keinen Sinn hat. Es ist die leere, die nur abstrakte Sinnlichkeit der Kultur, welche die Menschen darin gegensätzlich bestimmt, Lebensräume erzeugt und Gemeinschaften ausmacht. Bestimmen tut, was das Gegenteil von der Leere ist, also: Alles, was füllt.

Verrückt macht hierbei nicht der Druck der Verhältnisse und ihrer Inhalte und Verpflichtungen, sondern die Bedrängnis der eigenen Wahrheit. Es ist die Irreführung und Sinnestäuschung, die für jene Menschen nötig ist, welche durch ihre Nichtigkeit Macht erheischen, die sie gegen andere durchsetzen, um sich durch deren Leben zu füllen. Wo Menschen zu ihrem Leben stehen müssen (ob sie es wollen oder nicht), da wirkt dass Prinzip nichtiger Macht vernichtend: Sie sind doppeltes Objekt, weil sie in doppeler Objektivität gesetzt sind. Einmal leben sie in der Bestimmung der Selbsterhaltung und zugleich leben sie in der Bestimmung fremder Selbstbezogenheit. In der Selbsterhaltung wirken sie als Momente der bürgerlichen Ökonomie, in der Selbstbeziehung als Momente der bürgerlichen Kultur. Beides zusammengenommen macht die Scheinwelt der Gesellschaft aus, die nur durch Geld zuammenhält, die lebend abstrakte Gesellschaft, nicht allein die kapitalistische Gesellschaft, sondern die kapitalisierte Gesellschaft, die Gesellschaft als Kapital.

Es sind die Kräfte der Scheinwelt, die es zu erkennen gilt. Die gründen nicht auf Bosheit und Verwerfung, sondern auf Eigennutz, dessen Befriedigung schon vorgegeben ist. Auch die darin gut Situierten bedrängen und spalten, fälschen und betrügen nicht mit Willen, Wissen und Bewusstsein, – sie haben dies gar nicht nötig, weil ihr Leben im Vorteil ist und weil dies sie sein lässt, wie sie sind. Die Leugnung ihres Vorteils ist die einzige Lüge, ihre Macht die einzige Wahrheit, subjektiv wie objektiv. Die Erkenntnis der Gefühle beginnt mit dem Wissen der Bedrängnis und wird erst dann zum Wissen über das, was waltet, über die Welt, die sie wahr haben. So enthalten sie schließlich auch wirklich bestimmte menschliche Verhältnisse, letztlich ein Klassenverhältnis der Menschen von denen, welche subjektiv die Lüge beherrschen, weil sie ihrem Lebensmittel objektiv entspricht, und denen, die an der Wahrheit arbeiten müssen, weil die Verhältnisse gegen ihr ganzes Leben steht. So erscheint denn auch subjektiv die Macht derer auf, welche die Wahrheit zu besitzen glauben, und den anderen, welche sie sich erarbeiten müssen. Die einen sind nur dadurch lebender Beweis, dass die anderen ihr Leben besitzen, dass sie von ihnen auch wirklich besessen sind. Sie müssen die Lebensfrage gegen eine Lebenslüge stellen und Besitz und Enteignung als Mächte ihrer Selbstentfremdung erkennen.

Wissen hat nur Gewissheit, wo es gelebt wird. Und nur dort kann es sich auch als wahr erweisen. Es kann in der Wissensbildung kein Mensch für den anderen arbeiten, da sie immer auch eine Tätigkeit des Gewissens und der Gewissheit ist. Aber jeder kann seine Arbeitsergebnisse dem anderen zur Verfügung stellen. Meine Ergebnisse sind eher allgemeiner Natur, da meine Gewissheit sich nur auf meine Lebenserfahrung und die darin herausgebildete Logik im Wissen über psychische Prozesse beziehen konnte. Für mich war einfach nur nötig, mich so zu den einzelnen Ereignissen und Gefühlen zu stellen, wie ich es mit meinem Wissen konnte. Solches Wissen kann nicht unmittelbar die Geschichte finden, die ein Mensch gehen muss, der diese Gefühle und Verhältnisse wirklich lebt, aber es kann Aufmerksamkeit erzeugen für das, was sich erschließen, wenn auch nicht unbedingt sogleich beweisen lässt. Immerhin folgt das Dahinterliegende einer Tatsache immer auch einer Logik, welche Fragen aufzwingt, die sich ohne dieses Wissen nicht ergäben. Aber es kann auch zur Spekulation verleiten, es könnte auch schon durch eine Logik des Spekulierens eine Art "Foulie a Deux“ erzeugen, wenn es alleine in einer theoretischen Kammer so geschähe. Daher muss sich diese Logik, die Lehre der Zusammenhänge auch hinterfragen und darstellen lassen. Das bedeutet die Notwendigkeit von wissensechaftlichen Diskussionen. Ansonsten hat Wissen noch keinen wirklichen Sinn. So ändert sich auch durch die Besprechung von Fragen selbst noch nichts. Weder sind die Verhältnisse, noch sind die Gefühle anders, wenn man sie weiß, noch fühlt und versteht man sie unbedingt anders, als sie sind. Es kommt drauf an, mit diesem Wissen zu leben und d.h., sein Leben zu wissen. Aber in diesem wirklichen Lebensprozess wird sich einiges ergeben, das so nicht mehr ist, wie es unwissentlich war, und das daher sich ändern muss, will man anders sein. Änderung bekommt einen Sinn, den sie bis dahin nicht hatte, eine Vorstellung von Zusammenhängen, die einen Weg entdecken lassen, der vordem verstellt war, ein Wissen um die Notwendigkeit, die nicht nur entdeckt hat, was sich in der Not wendet, sonders auch, was dem Menschen objektiv wie subjektiv nötig ist. Nichts anderes ist das Bewusstsein.

Die Unterscheidung des eigenen vom fremden Leben in den Lebensprozessen selbst ist im Bezug auf andere Menschen letztlich Erkenntnis eigenen Seins in einer eigenen Existenz, also Menschsein in der Form, in der man lebt, in der man seine Beschränkung, sein Eigentum und seinen Besitz hat, Wissen um das Leben seiner selbst, Selbstbewusstsein. Wird die fremde Macht erkannt, von der das eigene Leben besessen wird, so wird auch erkannt, wie eigenes in fremde Hand gerät. Es ist dies nicht anders als überall, wo Eigentum in Besitz übergeht. So verstanden geht es hier auch um Klassenbewusstsein, um das Wissen der Enteignung; aber das ist nicht die Bestätigung eines vorgegebenen Wissens von Klassenverhältnissen (Bewusstsein kann niemals Bestätigung von Wissen sein!). Es ist ein Bewusstsein, das sich nur konkret in der Auseinandersetzung der Erkenntnisinteressen bilden kann. Hinter diesen Interessen steht ein Sein, das den Gegensatz schon als Widerspruch enthält und als fortträgt, will es dieses Sein als Sosein bestätigt erhalten, will es die unbefragt erhalten wie ein Prinzip notweniger Lebensbedingtheit.

Es wäre ein Dünkel intellektueller Absichten, zu glauben, aus einer Arbeit mit einem Menschen müsste notwendig dieses oder jenes Resultat herauskommen. Das Wissen kann sich nur erweisen und kann so nur den Weg eröffnen, den ein Mensch auch gehen kann, das sowohl seinen Notwendigkeiten folgt und deren Negation erschließt, weil es das Nötige als einfache Lebensfrage wieder auf den Boden stellt, den die Notwendigkeit noch als Selbstverständlichkeit faktisch sein lässt, unüberwindbar, übermächtig. Es geht also nicht um ein Bewusstsein als das Ziel eines vorgegebenen Wissens, sondern um eine Geschichtsbildung aus der Bildung eines Bewusstseins der wirklichen Lebenslage heraus. Die wird bei einzelnen Menschen ebenso wie auch bei den Menschen überhaupt erst ermöglicht, wenn sich Wissen zu einer Lebenslage mitteilt – und das heißt: die Verhältnisse fremder Lebensbestimmung erkannt werden und die wirklichen fremden Mächte in ihrer konkreten Bestimmung (z.B. als Lebensraum, der persönliche Macht begründet) bewusst werden. Solche Bestimmungen kommen sowohl materiell wie auch in den Geistern des alltäglichen Lebens vor. Es sind nicht die Menschen, die Macht per se haben, suchen oder nutzen, wie es im rechten Flügel der Philosophie (z.B. Nietzsche) und der Psychoanalyse behauptet wird; es ist die Ohnmacht aller Menschen gegenüber ihren Sachverhältnissen, durch welche Menschen, die Macht ergreifen können, erst dazu kommen, sie auch für sich zu nutzen. Nur weil die allgemeinen Lebensverhältnisse aus der bisherigen Geschichte heraus als ein gesellschaftliches Verhältnis der Sachen und noch nicht zu einem sachlichen Verhältnis der Menschen entwickelt sind, erleiden die Menschen die Welt, in der sie ihr Leben haben, wie ein Monster fremder Mächte, wie zum Beispiel Geld, Konsum, Ruhm, Ästhetik und Ehre. Kritik heißt: Sich unterscheiden. In der Kritik hieran wird das Bewusstsein der Entfremdung zu einem Wissen von der Welt, in der sie als fortwährende Enteignung auch wirklich stattfindet.

Das Wissen der Selbstentfremdung bleibt theoretisch, wenn es nicht in einem Bewusstsein der Enteignung zu einer Gewissheit wird, die sich im Lebensprozess sinnlich bewahrheitet. Bis hierhin ist dies noch nicht gewährleistet; aber eines ist jedenfalls mit einem solchen Wissen auch jetzt schon erreicht: Die Entgeisterung ist der Möglichkeit gewichen, gegen fremde Geister tätig zu werden. Die eigene Geschichte wird zum Moment vieler Geschichten, der Gefühlszusammenhang im isolierten Familienraum, in eingeschlossener Sinnlichkeit, erahnt die Möglichkeit eines anderen Seins schon alleine in der Erkenntnis, dass es vielen Menschen ähnlich geht, dass es so "subjektiv“ gar nicht ist, wie es erscheint, dass es sogar eher vielfach gleich ist, objektiv wie ein Prinzip, das Menschen beherrscht. Eigentlich besteht hierdurch sogar die Möglichkeit der Solidarität der Menschen, die sich in subjektiven Machtkämpfen gegenüber stehen; eigentlich eröffnet es die Möglichkeit für alle, diese Kämpfe als eine Krisenreaktion zu erkennen, welche die Ursachen der nicht angehen, sondern perpetuieren. Allerdings ist hieraus nur dann zu entkommen, wenn die Mächte, welche Besitzverhältnissen entsprechen, mit der Umkehrung dieser Verhältnisse, mit dem Verhältnis der Eigentümer auch entsprochen wird.

Wenn bestimmte Verhältnisse bestimmte Sinne ausschließen, welche genau das Leben tragen müssen, das sie gegen sich haben, so sind sie selbst krank und verbreiten auch allgemein ihr Leiden. Wo ein Mensch in seiner Isolation wahnsinnig werden muss, findet er zumindest seine Isoliertheit aufhebbar, findet neue Verbindungen, neue Auseinandersetzungen und auch Lebensinhalte, die ihn von den alten entfernen können, die neue Geschichten anstoßen und eigene Kräfte erwecken. Dies alles muss nicht zwangsläufig so sein, aber es kann so gehen, wenn die Bedingungen hierfür da sind. Es könnte sogar sein, dass auch die Menschen, die in solchen Lebensräumen ihr eigenes Leben als fremd erfahren, wenn sie es nicht mehr getragen bekommen, die Kritik der Entfremdung selbst nötig haben, wollen sie in irgendeinem Sinn weiterleben. In jedem Fall hat die Entgeisterung der Sinne ein sinnvolles Ende in einer wirklichen Begeisterung für die Sache der Menschen.

Der wähnende Sinn als Sinn der Enteignung

Maria und ich waren uns darin einig, dass es verfolgende Mächte gibt, die einen Menschen auch zum Wahnsinn treiben, so er damit isoliert ist. Überall gibt es Kontrollen, welche die Identität eines Menschen feststellen und festhalten, oder auch nur beobachten, ob er sich normgerecht verhält. Das ist manchmal nötig, um z.B. den Verkehr besser zu regeln, den Besucher frühzeitig zu erkennen oder um eine Tat einer Tätigkeit zuzuordnen. Zur Verfolgungsmacht wird dies, wenn es in einen Menschen subjektiv eingreift, seinen Willen als "Gesinnung“ erforscht, seine Identität politisch bewertet oder seine Tat an einem Gesamtwillen des Staats bemisst und anderes mehr. Verfolgung war eben nur subjektiv zu verstehen und auch nur als Verhalten eines Subjekts gegen ein anderess zu begreifen. Objektiv steckt da etwas anderes dahinter. Ein "Verfolgungswahn“ versteckte also auch etwas, um das es "eigentlich“ geht. Und genau das war für uns beide von Interesse.

Obwohl diese Einigkeit verschiedene Gründe hatte, war sie doch nötig, um sich auch über unsere unterschiedliche Ausgangspunkte hierbei klar zu werden: Obwohl wir beide solche "Realität“ kannten, nahmen wir sie doch manchmal mit vollständig unterschiedlichem Sinn wahr. Wir konnten darüber reden und mussten beide im einzelnen aus wohl sehr verschiedenen Gründen, aber doch auch irgendwie gemeinsam der Frage nach der Ursache und der Kraft solcher subjektiver Mächte nachgehen. Wir hatten sozusagen ein Stück Arbeit zu tun, die jeden für sich in seinen Erkenntnissen weiterbrachte. Maria wollte ihr Leben erkennen, das für sie nicht lebbar war, solange es ihr in ihren Stimmen entgegenhallt. Ich war von der unmittelbaren Wirklichkeit von Erkenntnisproblemen überzeugt, und wollte sie in menschliche Lebensprobleme umkehren (und dies als Kritik der Psychologie betreiben.

Wir redeten viel miteinander. Aber in den Zuständen, wo sie wirklich Hilfe brauchte, ging es eher um die Fähigkeit, etwas in Worte fassen zu können, dabei wahr zu bleiben, also nicht in irgendeine psychologische Technik zu geraten und sich auch so heiklen Fragen zu stellen, was denn wahr sei, ohne dass dabei Wahrheit festgestellt wird. Meine Arbeit mit ihr war nicht mit Auslegung von Gefühlsinterpretationen oder Aufklärung über seelische Zusammenhänge oder dergleichen befasst. Im Gegenteil. Ich begriff Gefühle ebenso wie den Wahnsinn selbst als Form der Erkenntnis dessen, was ein Mensch wirklich wahr hat, ohne es wahr zu nehmen. Aber es ist nicht leicht, dieses zu erweisen, besonders dann nicht, wenn die Empfindungen hierfür fast vollständig abwesend sind. Selbstentfremdung ist nur im Verhältnis von Empfindungen und Gefühlen erkennbar. Wie kann sie sich überhaupt erweisen, so dies nicht gegeben oder erkennbar ist?

Hierfür blieb nur ich selbst übrig. Ich musste Empfindungen erzeugen, welche den Wahn durchbrechen können. Also musste ich an meiner eigenen Selbstvergegenwärtigung arbeiten und in Situationen der Selbstentfremdung mich als Gegenwart von ihr wahr machen und Sprache bilden können, an deren Stelle sonst nur Wähnungen blieben. Ich arbeitete also für meine eigene Anwesenheit, also eigentlich an mir, während wir zugleich über anderes sprachen. Ich war in meinen Gedanken und Worten, sie in den ihren, und diese Anwesenheit selbst war die einzige Brücke, der winzige Grad, ihre Isolation zu unterbrechen, solange ich mir und ihr nichts vormachte. Tatsächlich hoben sich die Stimmen in den "Übergangsphasen" oft durch meine Anwesenheit, durch eigenes Sprechen auf, durch Wissen, dass da einer ist, der auch in anderen Zuständen Gegenwart hat, der anwesend ist, ohne abwesend zu sein. Der Wahn ist so objektiv, wie der wähnende Sinn subjektiv ist. Wenn wir uns über das, was sie wähnte, besprechen konnten, war der Wahn aufgehoben – nicht auf Dauer, aber für den Augenblick. Wenn sie durch meine Anwesenheit abgelenkt war, so verschwand auch der Hintersinn in den Nischen und Ecken ihrer Seelenräume. Was daraus werden konnte, war mir ziemlich unklar. Aber vielleicht war es eben auch nur eine Ablenkung, zumindest aber auch eine Unterbrechung zur Kraftschöpfung. Und eine Verrschiebung des Zeitpunkts der Psychopharmakaeinnahme. Solange solche Anwesenheit möglich war, musste sie keine Pillen nehmen, die ihre Wahrnehmung blockierten und ihre Selbstwahrnehmung erniedrigten. Der Zirkelschluss der Wahrnehmung, den sie betreiben und vertiefen, der Abwärtsstrudel, den sie erzeugen, war so unterbrochen und auch der Wahn selbst unterbrochen. Aber die Lebensbedingung, die ich hierbei ersatzweise darstellte, war für mich auf Dauer unerträglich – logischerweise wäre ich der "gute Ersatz“ für die schlechten Lebensbedingungen geblieben, alternative Selbstentfremdung. Am Grund lässt sich hierdurch nichts ändern.

Aber auch eine Ablenkung oder Unterbrechung ist ein Ereignis, das Geschichte hat. Es sind wichtige Erfahrungen, in der Lage zu sein, die Stimmen zu bewältigen und den Wahn "in die Ecke zu stellen". So war zwar das, was Maria in den Verhältnissen wähnte, nicht unmittelbar und wirklich wahr, aber eben mittelbar in dem, was sie in den Verhältnissen fand. Sie war verliebt, wirklich wie jede andere Frau auch, aber konnte ihre Liebe nicht leben; sie war wirklich verfolgt wie jeder Mensch, den man nicht sein lassen will, wie er ist, aber sie konnte ihre Verfolger nicht erkennen. Aber indem dies nicht mit dem Wirklichkeitspostulat der objektiven Gewissheit erschlagen wurde, gab es "ihrer Wahrheit" einen Sinn. Die Kraft, die da ständig gegen sie stand, entstand aus ihrem Selbstverlust, aus dem Schwinden ihrer Sinne durch einen Sinn der keiner sein kann. Das ist einfach logisch. Er kann nur etwas sein, was er zugleich nicht ist, weil er zwei in Einem ist: Ein Doppelsinn. Der verfolgende Sinn ist dadurch wirklich (i.S. von wirksam) und ein mächtiger Sinn, dass er doppelsinnig ist und zugleich die Trennungen zusammenhält, die er erzeugt, ein sich selbst widersprechender Sinn, Einheit der Gegensätze und nur darin sinnlich. Was in der Kommunikationsforschung Doublebind genannt wird und dort auch bestens beschrieben ist (40), das hatte sie "in Leib und Seel“.

War sie von einer Beziehung her bewegt, so zerteilte sich zugleich ihre Selbstbezogenheit in Äußeres und Inneres, in Reflektion über sich und Verlangen. In dem ohnmächtigen Hin und Her ihrer Regungen bezweifelte sie sich jeweils von einem Standpunkt, der den anderen ausschloss. Indem sie diese Positionen der Selbstbedrängung überhaupt wahrzunehmen begann, entstanden Erfahrungen, die sich nicht in ihr unter fremder Einheit verloren und sie insgesamt verfolgten, sondern es entstanden Regungen voller Angst, die immerhin den Gegensatz gewärtig hatten. Es waren vielleicht die ersten wirklichen Beziehungen, die sie nicht "verschluckte". Das führte dazu, dass sie an ihrem Selbstzweifel gegenüber der Macht des Faktums ihrer Regungen sich nicht zerzweifeln musste. Die Schuld, die sie sich gab, wurde in diesem Verhältnis entweder unnötig oder stückchenweise verständlicher, also realer.

Trennungen, die einem nötig sind, um Gewissheit zu erhalten – erhalten im doppelten Sinn von bewahren und bekommen – , sind nicht so leicht zu überwinden durch Verbindungen, die ihre Notwendigkeit gar nicht auf Anhieb erkennen lassen. Sie können sich nur ereignen. Und wenn sie sich nicht ereignen, so gibt es sie nicht und wenn sie nicht begriffen werden, so erkennt man sie nicht. Der Sinn von Gesprächen kann daher daran liegen, diese Ereignisse ins Licht zu stellen, ihnen Bedeutung zu geben, weil sie sonst unbeachtet untergehen, verkümmern und sich durch Lebensroutine ersetzen, welche die Widersprüche "chronifizieren".

Es ging also um die Entwicklung von Getrennten, um die Trennung zu überwinden, welche ansonsten diese mächtige Gegenkraft in Gang setzen würde, dies Kraft der Verfolgung, der sie sonst gehorchen muss. Für sie ging es um die Überwindung der Trennung so verschiedener Wahrheiten wie Liebe und Glaube, Erregung und Sinn, Schuld und Geschlecht und vielen anderen mehr. Sie musste das alles erst in einer Weise entdecken, wie es für sie wahr sein konnte. Es war ihre Geschichte und ich hörte ihr neugierig zu. Sie stellte sich gegen den Wahn mit dem, was sie in unseren Gesprächen an Sinn finden konnte und es waren ihre Verhältnisse, die sie neu überdachte. Das hatte keinen therapeutischen Zweck und ich war längst kein Psychologe mehr. Das einzige, was ich bewirken konnte, war, dass Maria mit mir für eine Zeit lang aus dem Wähnen heraustreten konnte und ihre Geschichte zusammenzufügen begann, wie sie zugleich auch begann, eigene Geschichte zu erkennen und zu gründen.

In ihrem "Liebeswahn" stellte sich so die Geschichte ihrer Liebe dar. Indem sie diese Geschichte aber zu verstehen begann, verstand sie auch die Formen, durch welche diese Geschichte beherrscht war. Sie erarbeitete sich ihr Geschlecht, welches bisher von Wähnungen und Verzweiflung beherrscht war, weil es in ihrer Geschichte für sie nur objektiv, also außer ihr seiend (z.B. in der Erregung von Männern, besonders ihres Vaters) bestand und mächtig war.

Ihren ersten Freund hatte Maria kennen gelernt, als sie 18 war. In ihrer streng katholischen Familie in den 60ger Jahren galt Liebe für "ein Mädchen" als Gefahr – nicht ohne Grund. Außerdem hatte eine Frau hauptsächlich "Ernsteres" zu tun. So verrichtete Maria vorwiegend Hausarbeiten und war mit der Schule beschäftigt. Sie war eben "streng erzogen" und sollte die Erregtheiten in der schwülen Heimlichkeit ihres Elternhauses auch dort belassen; – und das hieß: Auf eigene Erregungen zu verzichten. Sexualität war von daher für sie doppelt verneint: Einmal subjektiv als Erregung, die nicht sein darf, weil sie nur als ab- und eingeschlossene Privatheit in ihr Elternhaus gehört; einmal als Frau mit einem Sinn für das "andere Geschlecht“, die Männer nur mächtig und sich als ohnmächtig in ihren eigenen Regungen erfahren hat, und von daher ihren eigenen Sinn für sie objektiv gegen sich hat. Sexuelle Empfindungen bedeuteten für sie unmittelbare Identitätsbedrohung: Sie empfand darin subjektiv wie objektiv ihren Identitätsverlust.

Und so war es auch wirklich. Als sie zum ersten Mal mit einem Freund geschlafen hatte, war sie an einer Stelle berührt, zu der sie keine eigene, wohl aber sehr viel fremde Beziehung hatte. Scheinbar wurde sie damit nicht "fertig“, denn es traten gleich danach auch zum ersten Mal diese Stimmen auf, die ihre Gefühle lächerlich machten, darüber tratschten oder ihr etwas androhten. Das Schuldgefühl war unmittelbar in den Stimmen da. Es muss also ein Schuldgefühl gewesen sein, das nicht als wirkliches Gefühl auftritt, nicht als ihre Schuld an dieser Tat, sondern eine Schuld, die durch sie hindurchgegangen war und sozusagen vom Jenseits an sie appellierte. Dennoch war es ihr ureigenes Gefühl, ihr Schuldgefühl, das sich da als fremde Stimme rührte, die ihr Schuld machte. Aber das Schuldgefühl erschien ihr als fremdes Organ, als eine Stimme außer ihr. Das hatte seine Bewandnis. Nur so konnte sie beides außer sich setzen: Geschlecht und Schuld. Beides war sinnlich nicht Teil von ihr, sondern Teil einer fremden Bestimmtheit, einer objektiven Welt, mit der sie nichts im Sinn hatte, einer Welt, von der sie ausgeschlossen war, weil sie in ihren Regungen eingeschlossen blieb. Es war die Stimme, die ihre Nichtigkeit gegen die unermessliche Öffentlichkeit ihres Lebens formulierte, ihr nichtig sein in dem, wo sie nicht mal ist. Es war die Welt, die sie für sich selbst noch garnicht erreicht hatte, durch die sie aber immer schon bestimmt war – wenn auch im Ausschluss ihrer eigenen Regungen: Die Welt des Sexus, die ihr bisher nur als Bedrängnis durch ihre Familie, durch die Ehe ihrer Eltern und schließlich durch ihren Vater selbst gewahr geworden ist.

Ich denke nicht, dass es dabei um eine Angst vor eine direkten und unmittelbaren sexuellen Bedrängung ging. Das wäre vielleicht noch das beste Verhältnis in dieser Lage gewesen. Angst vor Geschlecht haben viele, die damit schon schlimme Erfahrungen gemacht hatten. Aber Maria hatte damit keine schlimmen Erfahrungen gemacht; sie hatte gar keine Erfahrung gemacht, dafür aber schlimm: Das Geschlecht war der Hintersinn der Not, die ihre Familie ausgemacht hatte. Es war nicht ihr Vater oder ihre Mutter, die sie in diesem Sinn positiv oder negativ bedrängt hätten; es war die Not jener Ehe, die ihr Leben bestimmt hatte: Der Hintersinn ausgeschlossener Geschlechtlichkeit. Für die Heranwachsende gilt dieser Hintersinn objektiv. Was ausgeschlossen war, kann nur außer ihr sein. Was Maria der öffentlichen Welt unterstellte, war das, was ihre Mutter zu ihrem Vater war: Zwiespalt von Urteil und Hintersinn. Es war nichts davon wirklich öffentliche Welt, sondern ihre Welt, die sich so veröffentlichte. Was sie fühlte und was sich in ihr tat, war die Ausschließlichkeit ihrer Regungen, die sich nur dadurch auf andere Menschen beziehen konnte, dass sie ihre Stimmung als Stimmen hörte, dass sie hörte, wie sie sich in ihrer ursprünglichen Welt gefühlt hätte, wenn sie dort getan hätte, was sie hier tat. Dadurch, dass sie zum ersten Mal einer eigenen Regung nachgegangen war und "zur Tat geschritten“ ist, die faktisch nicht mehr zu leugnen ist, weil "Geschlechtsverkehr stattgefunden hatte“, stand sie zwischen der Offensichtlichkeit ihrer braven Haushaltswelt und der abgründigen Gewalt verheimlichter Todesdrohungen durch das Lebensverhältnis ihrer Familie, wie sie es bisher erlebt hatte, ohne es zu leben. So "pflanzt sich fort von Geschlechtern zum Geschlechte“ (Goethe, Faust), was eine abgetrennmte Welt an Trennung auch bewahrt, weil die Abtrennung in den Menschen selbst übermittelt bleibt, wie ein Hintersinn, der dadurch sinnlich bleibt, dass die eigenen Sinne ihn brauchen, um in ihrer hergekommenen und überkommenen Identität zu bestehen. Solange sie also vor allem in der Isolation eines Individuums bestehen müssen, hat ihre Hintersinnigkeit auch Bestand. Nur wo Individualität nicht existenznotwendig ist, wo sie nicht vollständig für sich bestehen können muss, da kann sich eine solche Identität auch ändern.

Menschen können sich auf vielerlei Arten erkennen. In der Arbeit verhalten sie sich über ihre Tätigkeiten und erkennen darin ihre Fähigkeiten, Sinnbildungen usw. Die Liebe ist wohl eher ein Verhältnis, worin die Menschen sich nicht über ihre sachliche Beziehung treffen, sondern weil sie sich leiden können und weil sie einander leiden im ursprünglichsten Sinn des Wortes (Leiden heisst sinnlich sein). Sie ist wohl das einzige Verhältnis, worin ein Mensch einen anderen dadurch erkennt, dass er sein Leben im anderen weiß. Beide haben sich nötig. Es ist also eine nötige Beziehung, nicht unbedingt eine notwendige. In der Liebe ist vieles "zum Verwechseln ähnlich“, was jenseits davon sich nicht verstehen ließe, was für sie aber nötig ist, sei es für die Beziehung zu einem bestimmten Menschen, für die Selbstliebe oder für die allgemeine Menschenliebe. Als Lebensbedingung der Familie ist Liebe neben den Belangen des Haushalts die wichtigste Notwendigkeit. Das ändert sie schlagartig; sie kann zu einem Ding oder einer Funktion ersterben oder über die beschriebenen Verwechslungen auch Scheinwelten (und das heißt hier: falsche Identitäten) erzeugen – besonders wenn darin auch Menschenliebe und Selbstverliebtheit im Verhältnis der Familienangehörigen verwechselt werden. Eine enge familiäre Abhängigkeit macht den Kindern die Liebe ihrer Eltern untereinander und die zu ihren Kindern zur Lebensbedingung. Ein Kind, dem dies zu einer fremden Bedingung geworden ist, kann sich auch nur als Moment der bedingten Beziehung auf seine Eltern erfahren, kann sie nur unter dieser Bedingung lieben. Seine eigenen Regungen dürfen unter solcher Bedingung nur bedingungslos erscheinen, wie ein Ereignis, das sich gerade dann ergibt, wo es sich auf nichts bezieht. Es darf ja nichts anderes sein, es darf keine Beziehung haben und es ist daher schon bei seinem Auftreten schuldig, wenn es sich dennoch bezieht. So muss schließlich ein Kind, das seine eigenen Regungen als Beziehung auf andere wahrhat, dieses Gefühl der Bezogenheit als schwere Schuld an seinen Lebensbedingungen, als Liebesschuld am Leben seiner Eltern erkennen.

Liebesschuld als Lebensbedingung ist der Untergang jeder Liebe, bevor sie entstehen kann, ist ihre Negation im Vorhinein. Somit erzeugt eine Liebesschuld aus der eigenen Geschichte heraus eine Liebesangst für alle weitere Geschichte. Für den darin lebenden Menschen erscheint es das Natürlichste, bei der Schuld zu bleiben, um die Angst nicht als eigenen Lebensausdruck erkennen zu müssen; sie ist immerhin die noch lebende Negation. Die Schuldgefühle werden so zum geistigen Rückzug aus einer Wirklichkeit voller Angst. Aber weil alles zugleich lebt, treiben die Regungen immer wieder zur Verwirklichung und werden daher auch in einem wirklich existierenden Akt, in einem wirklich existierenden Verhältnis manifest und als Lebensbedrohung erlebt – und sei dieser Akt auch nur faktisch durch die Vereinigung der Geschlechtsorgane selbst existent. Ich habe von ihr nicht erfahren können, ob oder dass sie zu diesem Mann eine innere Beziehung hatte, die über die scheinbar allgemeine Verpflichtung hinausging, etwas in einem Alter zu tun, in dem es alle tun und: Niemanden dabei zu enttäuschen. Das eigentlich Verwunderliche ist, dass fortan das bloße Fakt das Verhältnis beherrscht: Die Begebenheit, die Anwesenheit eines Ereignisses, das wie ein Postulat des Soseins ist, welches Schuldgefühle wie Sinnesstürme entfacht. Es war also nicht so, dass sie ihren Regungen wirklich nachging, sondern dass sie Erregtheiten teilen musste, nicht "enttäuschen“ wollte, was dem gleichkommt, dass sie ihrer Selbsttäuschung kein Ende setzen wollte (Ent-täuschung meint: aufgehobene Täuschung). Dadurch, dass sie zu diesen Regungen kein Verhältnis hatte, war sie von einem Verhalten überwältigt, in dem sie das absolute Schuldgefühl überkam, die Macht eines vollständig abstrakten Verhältnisses, in welchem sie ja "nur das tat, was sie sollte“ und daran litt, dass sie es vielleicht auch wollte, dass sie Angst hatte, dass sie es überhaupt auch als ihr eigenes Leben – wenn auch nur "irgendwie“ – anerkannte. Enteignung setzt eben immer auch Eigenes vorraus. Und wenn es in einen fremden Sinn gerät, in einen Akt der Entfremdung, so ist es die Basis eines entfremdeten Selbstgefühls, das nur in der aktiven Negation des Selbstgefühls besteht. Das ist vielleicht dieser Verhalt das, was hier schwer zu verstehen ist. Wie kann eine Negation aktiv sein, leben, wirken, sich fortbestimmen, wo das Nichts doch keinen wirklichen Grund haben kann?

Was im Wahnsinn wie die Äußerung eines mystifizierten Lebens, wie eine Stimme aus dem Jenseits der Erfahrung erscheint, hat im eigenen Tun einen wirklichen Sinn: Es ist vollbracht, was nicht wahr sein kann. Und das scheint nun auch erst den Wahn zu begründen. Am eigenen Tun wurde Maria wahnsinnig. Das ist Fakt. Aber darin stehen Ursache und Wirkung in verkehrter Folge. Die Stimmen gemahnen an die unwirkliche Wirkung des Tuns, die Wirklichkeitsverachtung, welche der Hintersinn der einstigen Familie betrieben hatte, indem sie dessen Stimmung als seelische Meinung äußern und sich auf die Vordergründigkeit des wirklichen Geschehens negativ oder positiv, verächtlich oder mit Bewunderung einlassen. Die Stimmung in welcher der Hintersinns eines vergangenen Lebens fortbesteht, ist ein Grund ohne wirklichen Boden, ein Grund ohne Folgen, weil er keine Voraussetzung hat, voraussetzungslos erscheint. Alles was geschieht, erfolgt mit Schrecken vor dem, das es eigentlich nicht sein kann. Wirklich genommen ist der Wahnsinn dieser Schrecken, den man nicht einfach annehmen kann oder meidet. Er ist ja einfach nur so da (43).

Für den Wahnsinnigen ist das hart: Das Tun selbst erscheint jetzt umgekehrt als Grund dieser Mystifikation des Wahns. In den Schuldgefühlen, die ihm folgen, vergegenwärtigt sich eine Macht, die über das Leben fortbesteht und es beherrscht, die unabänderlich erscheint wie ein Naturereignis oder ein nicht enden wollendes "Schicksal“. Und diese Herrschaft tritt dann wirklich, also sinnlich wirkend auf, wenn die Sinnesorgane dadurch berührt sind, dass es ein Verhältnis gibt, worin sich Eigenes formuliert; und sei es auch das Eigene, das zugleich ein fremder Mensch besitzt. Dieses Eigene in fremdem Sinn macht die Verwirrung aus, die sich in den Stimmen auflöst, die sie wie eine Ordnungsmacht erscheinen lassen. Dem kann Maria nicht begegnen. Somit wird ihr die Liebe oder was sonst alles als Inhalt der Beziehung mit im Schwange war, wieder zu dem, was sie vordem wahr: Lebensangst. Der Kreis bleibt in einer schlechten Unendlichkeit geschlossen, solange diese Angst keinen Ausweg in einem Leben mit Menschen erfährt, denen Lebensangst nicht nötig ist (41).

Maria war zunächst voller Angst gegenüber jedem wirkliche Geschlecht, und jede Beziehung, die sie einging, nahm sie nur mit dem Gefühl auf sich, etwas Absonderliches zu tun. Sie lebte dann auf, aber die Stimmen verachteten sie sogleich. Daneben gab es "das normale Leben“ oder besser: Die Härte des Lebens. Es bestand aus einem blinden Alltag mit leeren Strukturen und Forderungen, die allesamt die Möglichkleit eigener Existenz betrafen. Und die war schon von daher wichtig, dass sie die Bedingung war, sich aus der Geschichte heraus zu entwickeln. Unter einem ungeheuren Zwang zur "Normalität" versuchte sich Maria aufrecht zu erhalten. Da war sie selbst strenger als jeder ihrer fürsorglichen Berater und ihre Eltern, die ihr so ziemlich alles absprechen wollten, was irgendeine Lebendigkeit für sie hatte – und sei es auch das Zigarettenrauchen. Es war ihre einzige Chance, ihrer Familie wirklich zu entkommen.

Maria lebte demzufolge zunächst auch ziemlich getrennt von jeglichem Geschlechtsleben, besonders nachdem sie "hierdurch verrückt geworden“ war. In unseren Gesprächen hierzu bekam ich wenig zurück. Ihr ging es nicht um Liebe; die Verliebtheiten waren schon schlimm genug. Sie träumte einfach davon, einen Mann zu haben, wie auch immer. Was sie sich darunter vor allem vorstellte, war ein Mann, der die Verkörperung einer starken Ordnung, existentieller Macht und männlicher Fürsorge sein sollte, ein Mann, der bereit war, an die Stelle ihres Vaters zu treten und ihr die Trautheit eines Familienlebens mit Kindern bieten konnte. Sie wollte in "ihrem Mann" auch ihren Lebensgaranten und Lebensträger. Sie wollte auch mal getragen werden.

Doch dies schien ihr nun vollständig unerreichbar, zumal ihr von ihren Psychiatern zugleich anempfohlen wurde, auf ein solches Leben zu verzichten, denn – so ließen die durchblicken – eine Schizophrenie gilt als vererbt und man weiß ja nie, was dann aus den Kindern werden könnte! Die Psychiater hatten sie aufgegeben. Sie gönnten ihr nur scheinbar den Lebensgaranten. Vielleicht könnte er ja auch ganz praktisch sein. Aber "als Mann" könnte er sie soch irgendwann einmal auch wieder verwirren. Besser sei eine Abstinenz meinten sie, eine Gesundheitsgarantie durch die Lebenssubstitute, welche sie in ihren Neuroleptika sahen. Sie waren ganz wie die Eltern eingestellt.

Aber Pillen sind nicht nur Surrogate, sie sind praktische Lebensbekämpfung, Gewalt gegen die Wahrnehmung und ihre Organe. Die Psychiater vertreten mit ihren chemischen Knebeln die Macht einer Gesundheitsvorstellung, die im Körper nichts anderes bewirkt als die Fami1ie im Geist schon bewirkt hatte. Der Kreis hätte sich durch die psychiatrischen "Heilmittel" erst wirklich und zu einer Totalität der Lebensunterwerfung geschlossen. Die Psychopharmaka sind vom Wahnsinn nicht unterscheidbar. Oft erzeugen sie ihn auch erst wirklich, weil sie schon bei Krisen und Problemen jeder Art "empfohlen“ oder auch heimlich eingegeben werden (z.B. in Altenheimen und manchmal sogar auch schon in Kindergärten). Maria war sich mit mir darin einig, dass die Pillen abgesetzt werden müssen, wenn sie wirklich aus ihrem Problem herauskommen will. Die Psychiater spielten nur insoweit mit, als sie unsere Wohngemeinschaft als eine relativ geschützte Situation bewerteten und auf die für sie geringst möglich vertretbare Mengen gingen. Maria schlich sich dann selbst von der Medikamentierung aus. Allerdings griff sie noch mehrere Male danach, wenn ihre Wahrnehmungsstrudel zu heftig wurden. Und natürlich wurde sie bei den Klinikaufenthalten, die sie noch eingehen musste, auch mit mittlerer Dosis (so sahen es die Psychiater) medikamentiert. Die Psychiatrie war und ist insgesamt außerordentlich pharmaziehörig und sieht weitgehend in der Abtötung von "kranken Gefühlen und Stimmungen“ ihre große Erfolge. "Natürlich“ wird auch dort "gerne gesehen“, wenn es anders geht. Aber niemand geht dort anders.

Kehren wir deshalb lieber zurück zu dem Wahnsinn, der noch in den Menschen haust. Er ist die einzige Überlebensbasis des Wähnens und Fühlens, wie aller anderen Erkenntnisse, die in den Formen der Wahrnehmung geronnen sind. Kann man ihm nicht nähertreten, so ist der Mensch seiner Geschichte gegenüber versperrt wie ein Mensch, der einen organischen Schaden an seiner Wahrnehmung und seinem Gedächtnis (z.B. Hirntrauma) erleidet.

Um die Formen der Wahrnehmung zu entzaubern, muss erkennbar werden, was darin untergegangen und verwandelt ist. Dialektik ist die Lehre der Formverwandlung, der Metamorphose, welche menschliche Verhältnisse durchlaufen können, müssen sie ihre Not für sich wenden. In der Dialektik wird die Beziehung in verselbständigter Objektivität, in "geschlossenen Systemen“ gedacht. Sie ist die Art und Weise, die Methode, mit der menschliche Selbstentfremdung überhaupt begriffen werden kann und so zur Erkenntnis der darin verschlossenen Lebensnot führt. Wo die Not der Verhältnisse faktisch, also durch diese selbst gewendet wird, da entsteht ein Subjekt, das die Verhältnisse der selbständig gewordenen Objektivität regelt und hierdurch Macht über die Menschen bekommt. Das ist solange der Fall, wie die Menschen darin nicht ihre eigene Not, die Basis ihrer Geschichte wie ihres Reichtums erkennen und ein Bewusstsein ihres Tuns bilden und sich in ihrer Tätigkeit verwirklicht sehen. Tätigkeit verhält sich zum Leiden wie Werden und Sein. Wo Gewordenes Macht hat, ist das Werden verstellt. Die Vergangenheit bestimmt die Gegenwart; das Tote bestimmt das Lebende. Es ist ein lebender Tod.

Auch in der Leidensform besteht die Geschichte der Selbstentfremdung sinnhaft fort. Sie haust überall, wo sie sinnlich war und Sinn hatte. In diesem Sinn wähnt der Wahn, was er fühlt, außer sich. Er ist ein Sinn für Hintersinnigkeiten, die einen Menschen ergreifen, ohne dass er sie begreifen kann. Als solcher Sinn ist er das Gefühl der Enteignung und verspürt ein fremdes Subjekt als Grund seiner Negation, als die Ausblendung des Selbstgefühls durch einen Sinn, der im Wahn empfunden wird. Der Wahn ist daher auch die Sensibilität der Selbstentfremdung, die Empfindung, die dem Geist verblieben ist, wenn das Selbstgefühl sich der Psyche beugt.

Der Wahn ist die sinnhafte und vollständige Umkehrung des Zwiespalts, der in jeder zwischenmenschlichen Wahrnehmung als Verhältnis von Empfindung und Gefühl (48) schon besteht. Im Wahn hat sich der Mensch selbst wahr, indem er seine Selbstwahrnehmung außer sich gibt, indem er also sich selbst von außen als das wahrnimmt, was er ohne seine Selbstwahrnehmung ist. Das macht seine Freiheit aus, die absonderliche Rückgewinnung der eigenen Kreativität, Leidenschaft, Seele usw.. In ihm ist die Lebensform zum Inhalt der Wahrnehmung geworden, um Inhalte freizulassen, die in dieser Form veräußert worden waren (42). So ist der Wahn die ohnmächtige Erkenntnis der vollständigen Selbstentfremdung, Erkenntnis des Fremden in einem selbst und gewährt von da her wieder Leben, das erstorben schien.

 

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