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Gef�hle und Geschichten

Maria hatte viel hinter sich. Es war anfangs schwer, das genauer herauszufinden, weil sie lieber �ber anderes sprach. Sie wollte es vergessen. Es war ihrer ersten Psychiatrieeinweisung eine d�stere Zeit vorausgegangen, die f�r sie sehr schwer und leidvoll gewesen war. Sie kulminierte darin, dass sich Ihre Schwester vor zwei Jahren das Leben genommen hatte. Niemand hatte das in irgendeiner Weise geahnt, aber irgendwie habe sie das gewusst. Sie litt darunter wie unter einem Ereignis aus einer unbegreifbar fremden, finsteren Welt, an der sie beteiligt war, ohne ihre Beteiligung richtig ausmachen zu k�nnen. Ihre Familie war am zerbrechen, ohne dass ihr Zusammenhalt f�r sie von Bedeutung war; ihre Schwester kam zu Tode, ohne dass sie dies richtig erkannt hatte. Eine unbestimmte Bedrohlichkeit lag allgemein in der Luft, ohne dass sie das genauer h�tte beschreiben k�nnen. Sie qu�lte sich mit Schuldgef�hlen. Auf der einen Seite wusste sie von Depressionen ihrer Schwester. Aber die waren f�r sie "normal“, eben so, wie sie sie auch selbst kannte. F�r sie war es selbstverst�ndlich, damit leben zu m�ssen.

Sie f�hlte sich schuldig. Vielleicht, weil sie zumindest im Augenblick ihrer Todes "auf der anderen Seite", auf der Seite der �berlebenden gestanden war. Aber ich denke eher, dass sie sich nicht wirklich am Tod ihrer Schwester schuldig f�hlte, sondern am Untergang des Lebens in ihrer Familie – oder am Tod des Familienlebens selbst, an der Geschichte, mit der es zum Tod kam. Vielleicht war es ein Schuldgef�hl ganz allgemeiner Art f�r ein gro�es Ungl�ck ganz allgemeiner Art – wie eine gro�e dunkle Wolke, die alles verfinsterte, was f�r ihr Lebens wichtig gewesen w�re; es war wie ein best�ndiger Schatten �ber dem, was da hervorkommen wollte, aber nicht ins Licht treten konnte. Dieses wolkenhafte Schuldgef�hl war unendlich gro� und unendlich schwer. Jedenfalls hinterlie� es m�chtige Spuren in ihrem Verh�ltnis zu sich und zu anderen.

Ein Jahr, nachdem sich Ihre Schwester das Leben genommen hatte, vergegenw�rtigte sie "ihre Schuld" zum ersten Mal dadurch, dass Sie in der Zeitung vom Selbstmord eines Menschen gelesen hatte der angeblich zuvor mit ihr in ihrer Eigenschaft als Berufsberatungspraktikantin Kontakt hatte. Jetzt, nach einem weiteren Jahr, marterte sie sich mit Schuldgef�hlen, dass sie ihn nicht richtig beraten h�tte und sie an seinem Tod urs�chliche Schuld h�tte. Sie h�tte "es merken m�ssen". Alles h�tte sie merken m�ssen und daran hatte sie "Schuld“. Es schien, als wolle sie jetzt alles tun, um diese Schuld zu tilgen, zu �berleben indem sie dar�ber lebte, sich vor jedem Auftreten von Ereignissen f�rchtete, die sie daran erinnerten und zugleich bekennen zu m�ssen, dass sie "dazu geh�rt“ ohne dabei zu sein. Sie trat gegen eine unbew�ltigbare Ungeheuerlichkeit mit ihrem ganzen Leben an, indem sie "dagegen lebte"(5) und dagegen f�hlte, bis sie dem Ungeheuer nicht mehr entkommen konnte und es voll und ganz in sich f�hlte.

Schuld hat ein Mensch eigentlich nur, wo er einen Fehler h�tte vermeiden k�nnen oder wo er etwas Schlechtes tut, was er durch anderes Tun h�tte verhindern k�nnen. Im Gef�hl kann das zwar eine starke Bedr�ckung sein, aber nicht unklar und allgemein. Ein Schuldgef�hl ist meist doch etwas ganz anderes, eher umgekehrt: Es ist das Gef�hl einer Bedr�ckung.

Das Schuldgef�hl setzt kein Fehlverhalten vorraus oder den Versto� gegen ein Recht, eine Moral, eine Regel oder ein Gesetz, wie es vielleicht in der Bibel oder im b�rgerlichen Gesetzbuch steht. Damit w�re es einfache und objektive Schuld, die sich zweifellos auch f�hlen lie�e. Wenn dann aber der oder die Schuldige sein oder ihr Verhalten korrigiert oder "kraft Gesetztes“ f�r einen Regelversto� schuldig gesprochen ist, muss er oder sie sich nicht mehr schuldig f�hlen. Er hat sich ver�ndert oder wird bestraft. Man hat Schuld oder nicht und wei� dann auch, aus welchem Grund der Schuldspruch S�hne veranlasst oder unannehmbar, Unrecht ist oder welche Untat es fortan zu verhindern gilt oder warum und was die Bestrafung n�tig macht. Die wird dann "eingesteckt“ oder eben auch nicht, wenn sie falsch empfunden wird. Schuld bliebe so �u�erlich und objektiv, wie sie im Gesetzt auch verstanden wird. Was Recht und Unrecht ist, das ist der Streit um das, was sittlich, gut und richtig f�r das Gelingen eines gesellschaftlichen Verh�ltnisses ist, gleichg�ltig, wie das der oder die Einzelne darin f�hlt, solange er oder sie den objektiven Sinn des Ganzen teilt.

Mit einem dauerhaften Schuldgef�hl hat solche Schuld nichts zu tun, auch nicht mit dem, was Ungeschick, Sitte, Moral oder Recht ist. Schuldgef�hle bleiben in einem Menschen als Gef�hle m�chtig, weil sie nicht durch eine entsprechende Einsicht und Verhaltens- oder Lebens�nderung oder durch S�hne beendet werden k�nnen. Schuldgef�hle erscheinen dann getrennt von jedem �u�eren Grund ausschlie�lich subjektiv als Empfidung einer unermesslichen Bedr�ngung, die keinen eindeutigen Sinn hat. Die hat ein Mensch, wo er seinem eigenen Leben nicht gerecht wird, es zu einer Geschichte gebracht hat oder gebracht worden ist, die sich nicht leben l�sst. Schuld ist als Gef�hl immer Lebensschuld und hat nichts mit fr�heren Verh�ltnissen zu tun au�er der Tatsache, dass diese vielleicht so waren, dass man sich da selbst gegen�ber nicht gerecht werden konnte und immer noch nicht kann. Der Kern des Schuldgef�hls ist der Anschein von Unausweichlichkeit und Grundlosigkeit, welche die eigenen Lebensprobleme bekommen haben. Es gibt hierf�r kein Subjekt mehr, also erscheint es objektiv. Das Gef�hl der Schuld ist das Unterworfensein durch ein objektives Gef�hlssubjekt, zum Beispiel ein bestimmter Familiensinn, der sich in einer bestimmten Geschichte so ausgebildet hat, wie es unter bestimmten Lebensbedingungen notwendig ist, um darin leben zu k�nnen. Wesentlich f�r ein solches Schuldgef�hl ist dieses Bestimmtsein von diesem Subjekt, an welchem man von seinem Leben her seelischen Anteil hat, und dessen Untergang man f�hlt, ohne einen Sinn hierf�r zu haben oder degegen angehen zu k�nnen. Die Empfindung einer Lebensbedrohung kommt nur von daher, dass die seelische Vermengung lebensnotwendig ist und der Untergang des Gemenges total empfunden wird. Hierdurch wird es zu einer Welt der Seele, die m�chtiger ist, als das eigene Leben und welche das Leben eines Menschen nichtig setzen kann: Was er hier einbringt verschwindet ins Nichts, weil er alles, was er hierin empfindet, f�r das Gef�hl anderer Menschen Lebensmittel ist.

Auch die Schuldgef�hle von Maria waren deshalb nicht auf die Bewertung einer Tat oder eines Ereignisses gerichtet. Es ging nicht um das Trauma (59), das die Selbstt�tung ihrer Schwester in ihr hinterlassen h�tte – es ging eher um das Gegenteil, n�mlich darum, warum es gar kein Trauma war, warum es nahezu selbstverst�ndlich war! Sie wollte nicht irgendeine Tat oder b�se Gedanken ungeschehen machen oder "verdr�ngen“. Sie musste einfach mit einer Lebenserfahrung leben, mit der sie nicht leben konnte, weil deren Inhalte f�r sie unbestimmt waren. Sie empfand diese Unbestimmtheit als eine unerkennbare und unbegreifbare Bedr�ngnis ihrer Gef�hle – als v�llig fremde Bedr�ngnis ihres Lebens. Das macht das Schuldgef�hl eben wirklich aus. Sie musste gegen diese abstrakte Bestimmung, gegen diese Bedr�ngnis ohne Sinn, gegen dieses schiere objektive Gef�hl leben, um �berhaupt zu sein. Es war so stark, dass sie nur mit gro�em Aufwand ihrer eigenen Nichtigkeit entkommen konnte. Es braucht viel Kraft, immer gegen den Selbstverlust zu leben. Das machte ihre Anstrengungen aus, m�glichst "dr�ber" zu stehen, eine nette, sch�ne Welt zu haben, um nicht zu sp�ren, was sie nicht f�hlen durfte, weil sie es nicht ertragen konnte. Ihre Welt war irgendwie "auseinandergebrochen“ und zu Lebensphasen zerfallen, die sich aufteilten wie Phasen ihrer Kraft und ihrer Kraftlosigkeit. Mal war sie in der sachbezogene und mal in der rein gef�hlsm��ige Stimmungslage, je nachdem, inwieweit sie noch dr�ber stehen konnte oder ihren finsteren Ahnungen unterlegen war. Ihre durchweg positive Erlebensweise schien ihr Rettungsweg zu sein, aber auch der Bestandteil eines �berlebenskonzepts, sich mit Strategien der Alltagsbew�ltigung vor Selbstwahrnehmungen zu sch�tzen, die bedrohlich f�r sie w�ren (6). Was in ihren Vorstellungen passierte, war wie das Negativ zu der Welt, die sie kannte. Hierdurch wollte sie sich versichern, dass das nicht passierte, was sie f�rchtete und was in ihrer Lebensvorstellung nicht sein konnte oder sollte.

Und dies entsprach auch genau dem Anliegen ihrer Eltern. Sie wollten ihre Tochter sicher und gesund, vor allem rein vor dem "Schmutz der Welt“ und dem, was Leben und Lieben mit sich bringt. Man konnte diese absurde Gleichheit von der Sorge der Eltern, dass ihre Tochter krank werden k�nnte, und dem Inhalt der "Krankheit“ nicht �bersehen: Maria hatte sich in der selben Weise wahr, wie ihre Eltern sie wahrnahmen, sie f�hlte sich so, wie sie von ihren Eltern empfunden wurde – gef�hrdet durch die Eigenst�ndigkeit einer Liebe, wie sie in ihr steckt. Erst sp�ter kam ich darauf, warum besonders die Mutter geradezu fanatisch an der Abschottung und "Gesundmachung“ ihrer Tochter interessiert war, warum sie sowohl selbst diese Sorge hatte, als sie auch die Beh�tung der Tochter zur selbstverst�ndlichen Aufgabe aller beteiligten Menschen machte – zur Aufgabe ihr v�llig fremder Menschen, Fachautorit�ten, denen sie offensichtlich mehr vertraute als allem, was ihr vertraut war. Deshalb war Maria in die Psychiatrie gekommen. Sie sollte "wiederhergestellt“ werden – und das bittesch�n schnell und effizient. Maria kannte zu jener Zeit offensichtlich niemanden, der sich wirklich um sie sorgte, der sie wirklich mit Sorge um ihr Wohl bedachte.

Wie k�nnen Eltern sich am Leben ihrer Tochter derma�en vergreifen, wie konnten sie nicht begreifen, dass es einen eigenst�ndigen Sinn hat? Und: Warum konnte diese Tochter nicht erkennen, was ihre Eltern an ihr bewirkten, warum f�hlte sie sich auch noch daf�r schuldig? Das Seelengemenge musste total sein, musste wie ein "Umstand famili�rer Liebe“ in das Leben aller eingegangen sein, bevor es so etwas wirklich Verr-r�cktes zustande bringt, dass die F�rsorge, mit der Eltern ihr Lebensverst�ndnis an ihrem Kind vollstrecken zugleich als Lebenshoffnung des Kindes auf Erl�sung durch psychiatrische Behandlung erscheinen kann. Gab es da keinen Menschen mehr, der eigenst�ndig sein, selbst�ndig Empfinden, Denken und Handeln konnte? Und: Wie kann es sowas geben? Ist das eine Familie als Komplott gegen die Menschen darin? Gibt es etwas Objektives, z. B. eine bestimmte Aufgabe, wodurch sich die Familie derart zusammengeschwei�t hat? Bei so vielen Fragen wird es keine einfache Antwort geben k�nnen.

Jeder Lebensablauf ist sehr von dem bestimmt, was auf einen Menschen einwirkt und was er zu bew�ltigen und zu beweltigen hat. Die Lebensbedingungen sind der wesentliche Grund f�r alle Selbstwahrnehmungen, Gef�hle und Selbstgef�hle. Der Sozialforscher Jan Phillip Reemtsma hatte mal in einem Spiegelartikel die Selbstwahrnehmung von Frontsoldaten geschildert und daran ihre F�higkeiten zu unglaublichen Mordaktionen erl�utert. Was den Soldaten in Friedenszeiten selbst ungeheuerlich vorkommt, ist im Krieg ihr Alltag und ihre Grunderfahrung: "Wenn du nicht schie�t, dann stirbst du.“ Wen in jeder Sekunde eine Kugel t�ten kann, der empfindet sein Leben anders, und der hat eine g�nzlich andere Welt und ist zu allem f�hig. F�r Kinder sind Eltern die wesentlichste Lebensbedingung. Wie sie von ihnen wahrgenommen werden, so f�hlen sie sich auch, wie sie bedr�ngt werden, so sind sie unter Zwang.

In Marias Familie schien eine gro�e Sorge zu Hause zu sein. Ihre Eltern lernte ich als ausschlie�lich und rundum besorgte Menschen kennen. Mir schien es, als ob sie Maria gar nicht mehr f�r sich sahen. Nun ist das vielleicht verst�ndlich, wenn eine Lebenslage derart eng geworden ist, dass "das Kind“ manchmal wahnsinnig wird, dass es als "nicht lebensf�hig“ angesehen wurde und dass seine berufliche Entwicklung auf dem Spiel stand. Aber ich konnte in dieser Art Sorge keinen Grund erkennen, der wirklich Maria betraf, ihre wirkliche Entwicklung – im Gegenteil: Ihr Zustand sollte auch gleich noch dazu genutzt werden, ihr das Rauchen abzugew�hnen (12). Offensichtlich gab es f�r die Eltern nur Objektives, Objekte, die sich zu entwickeln hatten.

Nun ja: Es war eine komplette Lehrersfamilie. Aber so objektiv kann niemand sein, ohne etwas Bestimmtes zu wollen. Die Sorge ihres Elternhauses musste einen anderen Grund haben, als den, welchen sie vorgab. Es konnte ihnen in Wirklichkeit weder um "die Krankheit ihrer Tochter“, noch um deren "berufliche Entwicklung“ gehen, noch um ihre "Lebensf�higkeit“ schlechthin – irgendwie nat�rlich schon, aber nicht wirklich. Ihre Familie musste ein Problem f�r sich selbst sein, mit dem sie sich vor der Welt abgeschlossen hatte. Nur so war mir erkl�rlich, warum sie so laut um die Beherrschung von Marias ungesunden Eigenschaften (Rauchen) und Gef�hle (Verliebtheit) dort warb, wo es eigentlich um eine Hilfe f�r ihre Tochter gehen sollte. Es sollte nicht mal befragt werden, was Hilfe hier �berhaupt sein k�nnte. Das war klar: Die Wissenschaftlichkeit, die Objektivit�t der Psychiatrie und nichts anderes! Das Objektive soll als Lebensprinzip weiterhin durchgesetzt werden. Um jeden Preis. Wo Maria gerade daran gescheitert war und Hilfe brauchte, musste das doch jedem Au�enstehenden absurd vorkommen. Weshalb konnte nicht mal dies ihre Mutter versp�ren? Sie war so heftig, dass mir eine Besprechung hier�ber mit ihr unsinnig erschien. Das war mir mit Abgeh�rigen schon �fter so ergangen. Besonders mit M�ttern.

Auf groteske Weise lebte die elterliche Sorge, was immer auch ihr Grund sein sollte, in Maria fort. Sie hatte dies als Verh�ltnis zu sich, wie ein Gef�hl f�r sich, das sie nicht f�r sich haben durfte. Dieses Grundgef�hl war eine Angst gegen die Eigenst�ndigkeit ihrer Gef�hle. Ein solches Gef�hl ist ein m�chtiges Gef�hl, ein objektives Gef�hl, mit dem sie sich wahr hatte und zugleich dagegen leben musste. Sie f�rchtete ihre eigenen Regungen, erlebte andere Menschen praktisch immer als Fremde, bedr�ngt von einem Selbstgef�hl, das ihr vor allem Lebensschuld bedeutete: Sie war es ihrem Leben schuldig, kein eigenes Gef�hl zu haben und wurde tats�chlich gegen ihr Leben schuldig, weil sie ihre Regungen f�rchtete. Was sie f�r sich empfand, das durfte sie nicht leben und was sie von anderen f�hlte, konnte sie nicht f�r sich empfinden. So musste sie in einem Widerspruch leben, einem Gegensatz von ihren Empfindungen der Wirklichkeit und dem, was in ihren Gef�hlen vor sich ging und was eigentlich davon ausgeschlossen war (11). Durch das "Doppelleben" zwischen Empfindungen und Gef�hlen vervollst�ndigte sie sozusagen ihre Wahrheit, das Sein und Nichtsein ihres Lebens, wie ein Sollen, das alles umfasste, auch wenn es sich ausschlo�, indem es alles ausschloss, was "an sie rankommen" k�nnte. Was sie f�hlte wurde hierdurch zum Gegenteil von dem, was sie empfand und beides zusammen war eine unendliche Bedr�ngnis, die sich dann nur in ihr selbst abspielte. Sobald ihre Gef�hle sich in ihr m�chtig regten, verlor sie ihre Empfindungen, sah durch alles hindurch, was sie wahrzunehmen hatte. Wenn sie Empfindungen hatte, so schloss dies ihre Gef�hle aus. Der Wahnsinn war die vollst�ndig abgeschlossene Welt ihrer Gef�hle, den ihre Empfindungen als Irrsinn w�hnten. Der Sinn in ihren Wahnvorstellungen oder der Wahnsinn war just die Umkehrung ihrer Wahrnehmung. Damit wurde ihr eine sonst f�r sie unsinnige Wirklichkeit zu einer unwirklichen Sinnlichkeit.

Als ob die Wahrheit ihrer Empfindungen nur als w�hnendes Gef�hl sein konnte, wurde sie erst im Nachhinein, in Abwesenheit jeder bestimmten Wirklichkeit, sich selbst gewahr. Es war eine Wahrnehmung ohne ihre wirkliche Gegenwart und die Gegenwart einer Not, ohne Wahrnehmung von dem, was ihr geschah. Gegenw�rtig war eine ver�u�erte Wahrnehmung, eine ihr selbst unbeziehbare Wahrnehmung. Sie schien der �u�erung anderer zu gehorchen, fremden Empfindungen zu folgen, weil sie in deren Anwesenheit abwesend zu sein hatte. In der Gegenwart ihrer Beziehung auf andere war sie dann, wenn sie von ihnen ber�hrt war, eigentumslos an ihrem eigenen Erkenntnisverm�gen. Sie f�hlte, was sie f�hlen sollte, weil sie empfand, was nicht sein durfte.

Auch ihre F�higkeiten, ihre Arbeit und ihre sch�pferische und musische Kraft waren zweigeteilt. Wie sie selbst fand und sagte, kam ihr ihr normales Leben, ihre Ausbildung und ihr Beruf wie eine schale, f�r sie abgekapselte und fremde Welt vor, in der sie bestimmte T�tigkeiten und Funktionen hinter sich brachte, die einfach f�r ihre Existenz und ihre Selbstbest�tigung als Frau dieser Welt n�tig waren, aber ihr ganzes Innenleben l�hmten. Im Wahnsinn aber entfaltete sie ihre Gef�hle und ihre Schaffenskraft, erzeugte Bilder, Fantasien und W�nsche. Ihre innere Erkenntnis der Beziehungen und Zusammenh�nge, welche das Ged�chtnis ihrer Gef�hle, ihre Seele ausmachte, war – getrennt von jedem wirklichen Leiden – nur im Wahnsinn f�r sie wirklich, so, als ob sie ihre eigene Wahrheit nur w�hnen, das Gew�hnte aber nicht wirklich empfinden d�rfte.

In Ihrer wirklichen Wahrnehmung konnte sie nicht malen, nicht singen, nichts ausdr�cken und in ihrem Wahnsinn dr�ckte sich alles aus, was nicht wirklich f�r sie sein konnte. Sie lebte in Epochen des Wahnsinns und in Epochen der Wirklichkeit, und je fremder sich diese Zust�nde waren, je gr��er die Trennung beider Wahrnehmungswelten voneinander waren, desto tiefer war auch die Entr�ckung im Wahn. Er war auch irgendwie sch�n, wenn die Phase des Zweifels abgeschlossen war. Der Wahn erschloss ihr eine Welt, in der sie sich nah war, oder zumindest nah f�hlte. Aber er hatte auch den Charakter eines Suchtzustandes, weil er nur in der Abtrennung vom sonstigen Leben diese N�he hatte und daher im Absturz und ohne �berg�nge enden musste. Was im Wahn frei war, das war in der Realit�t bezwungen. Daher konnte die Lebensn�he im Wahn auch nicht wirkliche N�he des Lebens sein. Es war ein Reich der Freiheit, das sich aus dem Gegensatz zum Zwang der Realit�t eben auch n�hrte, also durch die Entgegensetzung selbst bestand. Was in der einen Welt beherrscht war, meldete sich in der anderen mit lebensbedrohlichen Interessen (z.B. Verfolgung, Gift), er�ffnete aber die M�glichkeit des eigenen Lebensgef�hls, �berhaupt der Empfindung zug�nglich zu sein. Maria lebte die Freiheit des Wahnsinns und den Zwang der Realit�t in einem, ohne dass sie sich an irgendeiner Stelle als Subjekt wissen konnte. Denn Freiheit war die Unendlichkeit ihrer Seele und Zwang die Not ihrer Sinne. Beides war objektiv wie subjektiv zugleich, war wie eine �u�ere Bestimmung ihrer Selbstwahrnehmung und war zugleich auch ihre Wahrnehmung selbst.

Der Wahnsinn erschien ihr wie ein �berfall irgendwelcher M�chte in ihren Sinnen, in ihren Gef�hlen, wie in ihren Wahrnehmungsorganen. So wie sie ihre Wirklichkeit als eine chronische Gewalt empfand. die jenseits ihrer selbst und als leere Notwendigkeit f�r sie galt, so meldeten sich in ihren Organen Kr�fte, die sich dem widersetzten, die nicht wirklich sein wollten und dennoch auf sie selbst Wirkungen hatten. Sie war die dritte Person, die alles er-leben musste, was ihr Leben war, weil sie weder sich mit den Sinnen, die sie hatte, annehmen konnte, noch die Welt als eine Wirklichkeit auffassen konnte, in der sie wirklich existierte. Ihre Wirklichkeit und ihre Sinne standen in einem umgekehrten Verh�ltnis zueinander: Wenn f�r eine zeitlang die Wirklichkeit alle Macht �ber sie gehabt hatte, dann war sie danach von ihren Gef�hlen �berw�ltigt. Sie empfand alles auf einmal als ein ungeheures Chaos gegensinniger Bem�chtigungen. Es war der Doppelsinn ihres Lebensstrudels, der sie nach einer Zeit der Lebensbew�ltigung in Gef�hle fortriss, die sie so sehr beherrschen musste, dass die sie bald darauf beherrschten. Mir schien die Situation des Strudels, in der sie den Zwiespalt ihrer Wahrnehmungen leben musste, die wirklichsten Situation unserer Beziehung, – vielleicht deshalb, weil ich eigentlich nur hier wirklich vorkam. Denn nur hierin war ich wirklich ein Partner f�r sie, nicht einfach ein schlauer Kopf, der sich auskennt, sondern ein Mensch, an den sie sich auch wirklich wendete. Aber hier ereignete sich alles unheimlich verr�ckt und chaotisch von einer Stunde ztur anderen. Aber es zeigte sich doch auch irgendwann, dass das unsinnige Chaos einen sehr geordneten Sinn hatte – auch wenn der noch ganz f�r sich geblieben war.

Da der Kontakt mit Maria nicht auf Sprechstunden und B�rozeiten beschr�nkt war, sondern mitten in ihrem Lebensraum stattfand, konnte ich feststellen, wann und wo sie wie reagierte und was das wohl f�r sie bedeuten musste, was sie "erlebte". So empfand ich ihre Wahrnehmungen, die sie in die Turbulenz ihrer Sinne st�rzten, zun�chst auch als wirklich verwirrend. Was daraufhin bei ihr erfolgte, war eine Interpretation ihrer Verwirrung, aber nicht etwa im Kopf oder durch den Verstand, sondern in ihr selbst. Sie w�nhte einen Sinn ihrer Sinne au�er sich, der in Wahrheit in ihr gewirkt hatte, bevor sie sich verwirrt empfand. Man k�nnte es metaphorisch so sagen: Es war die Meinung ihrer Seele. Die versp�rte einen Sinn, der nicht unbedingt f�r andere erkennbar war und sich vor allem nicht wirklich zeigte oder umsetzte. Aber sie f�hlte, was nicht empfunden wurde, weil sie f�hlte, was sich in Maria regte. Ihre Seele hatte ihre Regungen wie ein Selbstgef�hl wahr, durch welches sie erregt war. Die Welt war hier weit drau�en – aber eben doch nicht vollst�ndig weg. Was in der Welt f�r sie gef�hlsm��ig passierte, das isolierte sie in einem Selbstgef�hl, das wie aus ihrer Seele kam. Es war lediglich in einer doppelten Weise verkehrt; verkehrt auch im doppelten Sinn des Wortes: Verdreht und Verurteilt zugleich, umgekehrt und nicht rechtens.

So hatte sie sich z.B. einmal in einen Mann verliebt. Das merkte sie, aber nahm es wie eine Tatsache, zu der sie besser nichts tat. Aber dar�ber reden wollte sie schon. Deshalb erz�hlte sie hiervon einem andern Mann, der seit einiger Zeit gerne mit ihr redete und �fters bei ihr war. Vielleicht hatte sie mit ihm so etwas �hnliches, wie ein Vertrauensverh�ltnis. Dieser Mann war daraufhin auf den andern vielleicht eifers�chtig gewesen sein. Er wusste es selbst nicht so genau, denn auch er hatte zu Maria – wie er mir in einem Gespr�ch selbst berichtete – v�llig unklare Gef�hle. Darin passte er scheinbar ganz gut zu ihr: Ohne dieses Verh�ltnis je gekl�rt zu haben oder kl�ren zu k�nnen, f�hlte er sich von der Sekunde an einfach schlecht, als sie ihm das "vom Anderen" erz�hlt hatte. Sie merkte dies, sp�rte es in ihrem Gef�hl, empfand es aber doch nicht wirklich. Sie f�hlte es, hatte aber hierf�r keinen wirklichen Sinn, kein wirkliches Auge, keinen wirklichen Riecher, kein wirkliches Geh�r. Aber sie nahm mit ihrem inneren Auge, ihrem Gesp�r und ihrem Geh�rsinn wahr, was wirklich war: Ihre Seele f�hlte, dass es ihm schlecht ging. Sie selbst belastete sich damit nicht. Im Verh�ltnis zu ihm war das v�llig ungegenw�rtig; man verkehrte miteinander weiterhin lustig und oberfl�chlich und beide h�tten nicht gedacht oder besser: nicht gewagt, zu denken, dass sie vielleicht wirklich "etwas miteinander hatten".

So etwas gibt es im "gew�hnlichen Leben“ wohl �fters und meist auch ohne gr��ere Probleme. Es ist ja f�r viele Menschen �u�erst schwierig, sich zu getrauent, Gef�hle anzunehmen, aufzufassen, zu verstehen und dann auch noch umzusetzen. Oft ist es auch so, dass eine �u�erung hierzu �berhaupt nicht gefunden wird oder irgendeine Sprache – und sei es eine fremde. Jede �u�erung birgt die Gefahr, innerlich erkennbar zu werden, und das kann in einer Gesellschaft, in der um �u�erlichkeiten konkurriert wird und wenn Gef�hle zur Entstellung genutzt werden, Schlimmes mit sich bringen. Und noch schlimmer: wenn sie ausgesprochen sind und sich dann nicht verwirklichen lassen. Die Sprache ist ja in der Tat schon vertraxt genug: Sie kann dem Leben vorgreifen und es selbst auch am entstehen hindern, wenn es sprachlich vorweggenommen wurde. Die Sprache selbst kann etwas zerst�ren, das einfach noch nicht sprechreif ist oder durch sie ersetzt oder geregelt werden soll.

Maria konnte reden wie ein Wasserfall. Es schien f�r sie solche Probleme �berhaupt nicht zu geben. Und sie war dabei auch ehrlich und ohne Scham, offen f�r alles und jeden. Die Sprachwelt war wie ein Boden f�r alle Beziehungen. Aber was ihr dann im wahrsten Sinne des Wortes uns�glich wurde, war die Schuld, die sie empfand, wenn Beziehungen entstanden. Solche Gef�hle traten auf, bevor sie ihre Beziehung �berhaupt wahrnahm. Ein m�chtiges Schuldgef�hl �berw�ltigte sofort ihr gesamtes "Wirklichkeitsverm�gen“, ihre F�higkeit, Ursache und Wirkung unterschieden zu erkennen, sich t�tig und l�ngst bezogen zu wissen und zu sp�ren, was sie in Bewegung setzte, ohne es zu leben. Sie sp�rte sehr wohl, dass sie durch ihr Reden in eine Beziehung geriet. Aber hierzu kam nur ein Wahn von Schuld auf sie zur�ck. Sie wollte solche Beziehung nicht leben und wenn sie daraufhin wegen ihrer ungelebten Gef�hlen irgendwie litt, so glitt sie sofort in eine Welt voller Gef�hlsbedr�ngnis, eine Welt �berm�chtiger Angst. Dies alles hatte sie mir nicht in dieser Form erz�hlt; ich habe es nur durch meine Beobachtung erschlossen, in die meine Ahnungen und meine Spekulationen von dem Geschehen eingingen. Ich hatte keine andere M�glichkeit, als mir diesen Zusammenhang so vorzustellen. Aber wenn ich dar�ber in irgendeinem Zusammenhang sprach, so best�tigte sie mir das mehr oder weniger direkt. Sie wusste von dieser ganzen Ungewissheit in ihr, konnte aber nichts anderes machen, als das was sie tat. In ihr nahmen die Ungewissheiten einfach ihren Lauf.

Nachdem wir an dem einen Tag �ber den Zwiespalt ihrer Gef�hle und ihrer Zuneigung gesprochen hatten, erz�hlte Maria mir einen Tag sp�ter, dass sie "an der Welt schuldig" sei, dass sie Schuld habe, dass es "so vielen Menschen schlecht ginge". Dass sie Schuld habe an allem Selbstmord und Totschlag und sie deshalb auch "zu Recht" von der Welt beobachtet werde. Ein ganz bestimmtes Problem wurde �ber Nacht zum Weltenproblem, weil sie nicht die Wirklichkeit einer Beziehung, sondern nur deren Gehalt f�r sich selbst erkannte. Ein Mensch, der ohne Gewissheit liebt, der ist zerbrechlich. Und wenn er sich selbst dabei nicht mehr fassen kann, so ist diese Zerbrechlichkeit um so st�rker, wie er seine Liebe gar nicht erkannt hatte. Alles Leben spinnt sich in einer abgekapselten Seele (7) fort, ohne Sinn f�r sich zu finden.

Es ist ja eigentlich ein einfacher Vorgang. Wahrscheinlich kennen den viele. Aber warum kann dies jemanden in den Wahnsinn treiben? Warum gen�gt es nicht, das zu begreifen und zu �ndern, wie es doch jeder aufgekl�rte Mensch so gerne h�tte? Warum kann sich ein Mensch nicht so im Griff haben, wie ihn die Aufkl�rung begreift? Es muss daran liegen, dass Leben prinzipiell unbegreifbar ist. Anders gesagt: Es hat kein Prinzip, also kann man es gar nicht begreifen. Begreifen kann man einen Gegenstand oder die Regel, die Logik, das Objektive. Leben kann nur subjektiv sein. Und dies ist es nicht allem vorausgesetzt als voraussetzungslose Befindlichkeit, nicht apriorisch, sondern in allem enthalten. Es besteht nur "im wirklichen Leben“ – und zwar auch dort, wo es t�tlich ist. Der Wahnsinn verr�t vor allem eines: Dass es sich um ein zutiefst gekr�nktes Leben handeln muss. Es muss eine Lebensmacht existiert haben oder noch existieren, die in der Lage ist, Leben selbst zu bedr�ngen, das Wahrheitsverm�gen eines Menschen so zu beherrschen, dass er sich nur im Wahn beisammen hat. Die Abkapselung der Seele ist darin total und deshalb kann sie ihren Sinn nur in der Entsagung dessen haben, was gekr�nkt worden war. Eigenlich kann es sich dabei nur um die tiefste Identit�t eines Menschen, um sein Verbindung zu Menschen und zu seiner Welt, um den Kern seiner Liebe handeln, die einer Liebesmacht zum Opfer gefallen ist.

Man k�nnte nun meinen, dass die Zerst�rung dieser Macht, ihre Dekonstruktion (34), schon diese Kr�nkung aufl�sen m�sste. Dies scheint mir aber nur selten so zu sein. Zwar ist es ein wichtiger Schritt, �berhaupt Macht zu begreifen und zu erkennen, was sie bewirkt. Aber wesentlicher scheint mir die eigene Verstrickung darin zu sein. Macht kann doch nur deshalb so zentral auf einen Menschen wirken, wo er sie nicht von au�en erf�hrt, wo sie in ihn durch Umgang und Umgebung so "gestreut“ wird, dass er seine Kr�nkung gar nicht erkennen kann. Gerade nur weil es keine Au�enwelt solcher Macht gibt, kann sie doch im Menschen wirksam werden. Und deshalb ist die Auseinandersetzung mit den gegensinnigen Lebensmomenten eines Menschen so wichtig. Nur wenn die gegensinnige Gef�hle ihren m�chtigen Zusammenhang lebend erkennen k�nnen, k�nnen sie sich kennen lernen. Das ist ein angstvoller Prozess, der nicht in einer stillen Kammer oder in einem Therapiesalon vonstatten geht, sondern wirklich sein muss.

Die Seele eines Menschen, die tief gekr�nkt wurde, kann sich nicht einfach �ber alles hinwegsetzen. Wenn Seele der Begriff f�r einen Gef�hlszusammenhang ist, so k�nnen die Gef�hle unter dem Eindruck der Kr�nkung nicht einfach zusammenh�ngen. Sie treiben auseinander und fl�chten in eine stillen Ecke – mit dem Verh�ngnis, dass sie dort keinen Sinn mehr f�r sich haben. Den gibt es nur eben nur im wirklichen Leben. Das Gef�hl bleibt in seinem kleinen Heim heimlich (19). Und das Leben geht weiter und macht aus Gef�hlen Selbstgef�hle mit unendlichen Dimensionen und Widerspr�chen... Was kann man tun?

Ich bin davon �berzeugt, dass dieses verzweifelte Forttreiben isolierter Selbstgef�hle lange so gehen kann, und sich auch nicht dadurch �ndert, dass gegen die Macht von Menschen und Institutionen angetreten wird. Wenn niemand dazwischentritt, der den Sinn der Macht f�r den eintzelnen Mensch aufzusp�ren versteht, dann k�nnen die Formen der Macht nur wie die Windm�hlen des Don Quichotte funktionieren: Der Kampf gegen sie tut gut, aber er kann nirgendwo enden. Es muss hierf�r Erfahrung und auch genug Wissen geben, dass Gef�hle in ihrer Befangenheit zu verstehen sind und sie mit ihren verschiedensten und gegensinnigen Welten in Verbindung gesehen und auf diese auch bezogen wereden k�nnen. Dazu ist vielleicht zu allererst eher ein philosophisches, als ein psychologisches Wissen hilfreich. Es geht hier ja darum, Welt in Beziehung zu sehen, wo sie ihre Beziehung nicht zeigt, sondern diese in sich verselbst�ndigt hat. Aber Philosophie kann nur Fragen stellen, Identit�t suchen, und versuchen, Leiden und T�tigkeit, Welt und Wirken, Ursache und Wirkung, Gr�nde und ihre Folgen zu verstehen. Es geht hier aber auch darum, wie und warum sich Gef�hle verselbst�ndigen k�nnen und was ihre Selbst�ndigkeit ausmacht und erh�lt. Und vor allem muss auch positiv begriffen werden, was f�r einen Sinn das �berhaupt haben kann. Denn eine praktische und konkrete Ver�nderung ist nur m�glich, wenn die Not, die er hervorruft, sich gegen die Gr�nde wendet, aus denen er entspringt.

Daher m�ssen seelische Zusammenh�nge logisch erkl�rlich gemacht werden. Psychologie kann hilfreich sein, wenn sie die Seele gegenst�ndlich begreift; wenn sie begreift, was sie f�r sich macht und treibt. Obwohl ich die Psychologie in der Form, wie sie als Lebensberatung, Lebenstechnik oder Liebesideologie besteht, nicht ausstehen kann, und ich jede einfache und wirkliche Beziehung hilfreicher finde, als alles derartige psychologische Wissen, so muss es doch etwas geben, was Verbindungen herstellt, die sonst Br�che bleiben, weil aus jeder Not eine Tugend wird, wenn sie nicht begriffen ist. Denn darin treibt die Seele ihren Unsinn (9), darin treibt sie Gef�hle fort, weil sie deren Wirklichkeit verkennt und eigene Wirkung setzt.

Dass eine Seele �bersinnliche Wirkung hat, steckt schon in diesem Begriff selbst, der wohl urspr�nglich der Religion n�her ist, als der Psychologie. Er dr�ckt aus, was Religion ausdr�ckt: Dass die Menschen nicht vollst�ndig �ber ihre wirklichen Sinne verf�gen k�nnen und ihr Leben daher auch �bersinnlich erfahren m�ssen. Aber dass hieraus eine wirklich wirksame, ganz und gar selbst�ndige Kraft werden kann, das wurde mir erst hier richtig klar: Es ist eine Tat-Sache, dass die Seele Gef�hle zusammenh�lt, die ihren Sinn nicht finden, weil sie ihn nicht leben, und dass sie von da her auch etwas Eigenes hat, eine Meinung dar�ber, was f�r den Zusammenhalt gut ist. Durch die Seele wird alles zusammengehalten, was die Gef�hle bewahrt, die ihren Widerstreit nicht ertragen w�rden. Sie ist der Hintersinn eines Lebens, das seine Widerspr�che nicht erkennen kann und sie kann sie nicht erkennen, weil und solange sie diese in der Seele aufhebt. Die Gef�hle, die darin aufgehoben, aufbewahrt und in einer geistigen Metamorphose gewandelt sind, k�nden von einer vergangenen Geschichte – nicht von einer verdr�ngten, sondern von einer wirklich untergegangenen Geschichte, von den Konflikten, die unter bestimmten Bedingungen t�tlich f�r den lebendigen Geist sind, wenn sie nicht beseelt worden w�ren.

Es ist nicht das "wahre Leben", das im Wahn hervortritt (21); aber es ist das Leben, welches die Seele hat. Sie meldet sich in der Wahrnehmung eines Menschen, indem sie in ihrem Sinn dort eingreift, Empfindungen bestimmt, verf�lscht oder aufhebt. Sie erscheint darin sowohl als das, was f�r sie sein wirklich soll, wie sie darin auch lebt, was seelisch ist. Wirklich ist das ebenso wenig, wie lebendig, und doch ist es beides zugleich als Zustand der Empfindung, die nicht mehr zu sich kommt. Es ist ein sehr bedrohlicher Zustand, wenn das Leben selbst in der Belebung der Selbstaufhebung besteht. Es st��t ab, was ihm nahe ist und es n�hert sich dem, was es entfernt. Es wiederholt in einem fort die Geschichte, in der es aufgehoben wurde, weil es Angst hat vor der eigenen Geschichte, die noch gar nicht wirklich stattfindet, weil sie nicht wirklich abgeschlossen worden war. Nur wo ein Ende ist, kann auch ein Anfang sein. Es gibt keine gr��ere Bedr�ngnis f�r den Geist, als endlos Altes zu leiden und zu meiden, damit Neues nur dazu geschieht, Altes vergessen zu machen. Die Seele "wei�“ das, weil sie es betreibt. Nur der Mensch darf das nicht wissen, weil er es sonst leben muss. Wo er es tut, wird er von der Seele "zur�ckgepfiffen“.

In ihr haust eine Geschichte, die durch �berw�ltigung �berwunden worden ist. Es gibt sie nicht und besteht doch fort, wie ein Loch im Selbstbewusstsein, dass sich best�ndig f�llen muss, ohne jemals damit fertig werden zu k�nnen. Sie ist der Sisyphus des subjektiven Geistes, der seinen Sinn verloren hat. Nimmt man hinzu, dass Seele nur ein metaphorischer Begriff f�r diese Gef�hlsgeschichte ist, den man auch mit einem Gef�hlsged�chtnis gleichsetzen k�nnte, so kann man besser verstehen, was die Seele ausspricht: Eine Geschichte die nicht sein kann, und die deshalb sich in den Gef�hlen verfangen hat – dort fortbesteht und sich dort auch selbst�ndig, von der Empfindung getrennt, bewahrt. Im Wahnsinn sagt die Seele ihre Meinung, die sie sich in ihrer Geschichte gebildet hat, und sie bestimmt zugleich die Wahrnehmung durch das, was sie in einer Empfindung f�hlen muss, solange sie ihre Gef�hle nicht findet.

Das ist zun�chst mal leicht gesagt. Gef�hle zu finden, das ist doch der Anspruch jeder Art von Selbstentdeckung oder "Selbstfindung“ (welch absurder Begriff!), Anspruch der Leute, die von sich selbst noch nicht genug haben und davon auch nie genug kriegen k�nnen! Nein, darum kann es hier nicht gehen. Im Gegenteil. Und das scheint erst mal grotesk: Die Seele kann ihre Gef�hle nur dort finden, wo sie untergeht. Gef�hle kann man n�mlich nicht finden, wie man etwas oder jemanden empfindet. Die hat man, ohne sie auch immer zu haben. In der Seele verschwinden sie als Absicht der Wahrnehmung, als "Wahrnehmungsdirektive“, als Notwendigkeit, diese oder jene Wahrnehmung zu erzeugen, um Wahrheit zu haben. Die Seele stellt eben die Gef�hle her, die sie sucht und sie findet, was sie empfinden will. Sie sieht es auf eine bestimmte Selbstwahrnehmung ab und muss daher auch von vielem absehen, von dem sie andernorts wieder bedr�ngt werden kann. Die sogenannte Realit�t (27) bedr�ngt die Seele nur durch das, was die ihr an Wahrheit genommen hat. Wir befinden uns mitten im Herzen des Weltgeistes. Und das ist au�erordentlich trivial: Wo Du Deine Verh�ltnisse nicht erkennst, da beherrscht Dich Deine Seele. Eigene Verh�ltnisse zu erkennen, die Empfindungen darin als Wirklichkeit anzuerkennen, das ist der einzige Weg, dieser Herrschaft entgegenzutreten. Es klingt f�r jeden beseelten Menschen vielleicht f�rchterlich und ist auch das Ende der Psychologie, wenn sie richtig erkannt hat: Die Seele geht unter, wo die Gef�hle empfunden werden, die in ihr verschwunden sind. Das ist die L�sung des R�tsels, das die subjektive Objektivit�t der Seele ausmacht.

Bis hier hin habe ich nur eine Landkarte der Zusammenh�nge geschrieben. Aber wer von seelischer Objektivit�t beherrscht wird, kann seinen Weg finden, wenn diese Karte stimmt. Allerdings ist die wirkliche Bewegung daraufhin etwas v�llig anderes als das Karteschreiben. Immerhin sind schon einige Wege darauf eingezeichnet, die bereits gegangen wurden und wodurch Grund und Boden gefunden worden war. Gehen wir den Geschichten hiernach weiter auf den Grund – in der Hoffnung, dass wir uns dabei nicht verspekulieren (36).

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