Dekadenz
"Mag das Leben sterben: der Tod darf nicht leben. Hat der Geist nicht mehr Recht als der Körper? Allerdings hat man dies oft dahin interpretiert, daß den Geistern von freier Motion die körperliche Motion sogar schädlich und daher zu entziehen sei." (MEW 1, S. 59)
Dekadenz (von lat. cadere "fallen" , "sinken", frz. décadence, lat. decadentia) ist ein Begriff, mit dem Veränderungen in Gesellschaften und Kulturen als Verfall, Niedergang bzw. Verkommenheit beschrieben und bewertet werden. Der Begriff bezieht sich auf Verfallsphasen einer Kultur, in der ihre Lebenssubstanz nur noch aufgebraucht wird und die Menschen darin lebensüberdrüssig werden. Kultur wird hierbei für die Kultureliten, die das Leben immer nur beherrschen konnten, zum Medium ihrer Lebensverachtung (siehe Nihilismus), der Verachtung des Siechtums (siehe auch Friedrich Nietzsche), das in den Unterschichten immer offentlicher wird. Dekadenz ist die gesellschaftliche Kultur der Gefühlsmasse einer abstrakt menschlichen Gesellschaft, die sich nur durch Pervertierungen von Selbstgefühlen auf sich selbst beziehen und diese durch die Verselbständigung von Selbstveredelungen im gesellschaftlichen Verkehr eines verkehrten Verhaltens in ihren zwischenmenschlichen Verhältnisse erhalten muss. Ein allgemeiner, also allen gemeiner Egoismus beweist vor allem die Auflösung gesellschaftlicher Lebenszuammenhänge, die in ihrer Dekadenz die Perversionen zwischenmenschlicher Verhältnisse entwickelt.
Im Überfluss des Reichtum (siehe Überproduktion) verachten die Zwischenmenschen die Armut in jeder Gestalt und Form einer Lebensbewertung von "Untermenschen" und konterkarieren deren Öffenlichkeit mit Vorstellungen von einer pervertierten Lebenslust des Grauens die sich objektiv in einem Nihilismus des Todesmuts einer toten Wahrnehmung gegen alles Lebenige austobt und sich als Herrschaftsbewusstsein einer objektiven Selbstveredelung in einer sinnlosen Welt als objektives Selbstgefühl etabliert und auch als Legitimation der eigenen Schicht von Übermenschen im Zauber (siehe Mythologie) ihrer Macht vermittelt (siehe auch Kulturrassismus).
"In unsrer reflexionsreichen und räsonierenden Zeit muß es einer noch nicht weit gebracht haben, der nicht für alles, auch das Schlechteste und Verkehrteste, einen guten Grund anzugeben weiß. Alles, was in der Welt verdorben worden ist, das ist aus guten Gründen, verdorben worden." (Hegel, zitiert nach Marx, MEW 23, S. 279)
In Verhältnissen der Dekadenz, die durch Schmerz oder Tod bestimmt sind (z.B. Krieg, Missbrauch, Folter und anderen Traumata) finden sich Menschen, die einem starken Verlangen nach Vernichtung oder Tötung unterworfen sind. Was in diesen Verhältnissen noch eine Überlebenssstrategie sein mag, weil darin der Tötende der Überlebende ist, kann sich dann, wenn diese Verhältnisse abwesend und übergangslos durch die Gegenwart eines der Wahrnehmung unzugänglich gewordenen Lebens ausgetauscht sind, zu einem Vernichtungstrieb entwickeln, der seinen Ursprung nicht mehr kennt und in eine Depression übergeht, in der er sich gegenwärtiger Verhältnisse mit der Kraft einer abwesenden Sinnlichkeit (siehe Abstraktionskraft) zu entledigen sucht (siehe auch Trauma) und sich gegen die Macht der Wiederholungszwänge (siehe hierzu auch Zwangsverhalten) einer abgetöteten Wahrnehmung richtet. So müsste das Geltungsbedürfnis zwanghafter Charaktere weniger als autoritäres Bedürfnis (siehe autoritärer Charakter), sondern eher als Auswirkungen eines Nichtungstriebs begriffen werden (siehe auch Todestrieb).
Die Bewertung einer Dekadenz verlangt ein Bewustsein über die Werte, mit denen sie sich legitimiert (siehe auch Lebenswerte), ein Urteil über den Gehalt der gesellschaftlichen Verhältnisse, die darin obsolet geworden sind. Um dieses Bewusstsein als kritisches Selbstbewusstsein zur Emanzipation von den Kräften des Niedergangs auszubilden bedarf es einer Analyse der Formverwandlung dieser Kultur, die sich durch ihre Werte selbst verkehrt hat, also vor allem gesellschaftlich pervertiert ist (siehe auch Kritik der politischen Ästhetik).
Wo es zu keinem solchen Urteil kam, wo es also rein moralisch geblieben war, hatte bereits verheerende Folgen in der Arbeiterbewegung, welche in der bürgerlichen Kultur per se schon eine Abartigkeit menschlicher Lebensinteressen, die reine Widerspiegelung ihrer Herrschaftsinteressen sah (siehe Widerspiegelungstheorie). In seiner Abhandlung Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (Kapitel VIII "Parasitismus und Fäulnis im Kapitalismus") hatte bereits Lenin biologistische Metaphern wie "Fäulnis" und "Parasitismus" benutzt, um den Kapitalismus zu charakterisieren. Doch damit war eine substanzielle Kritik der bürgerlichen Kultur verunmöglicht und ihre Abweisung als bürgerliche Abartigkeit der des Nationalsozialismus ähnlich, weil darin nur personifiziert ausgedrückt wird, was objektive Vernichtungsprozesse darstellt.
Tatsächlich betrifft dieser Begriff einen Zustand, in welchem die Willkür der herrschenden Klasse die gesellschaftlichen Inhalte durch die Selbstsucht ihres Geldbesitzes zerstört und ihre Substanz nichtet, indem sie (z.B. durch Derivatenhandel) sinnlos verwirft, was ihr darin substanziell geboten wird, auch wenn diese Verwerfung nicht durch persönliche Süchtigkeit entstehen muss, sondern objektive Getriebenheiten des fiktiven Kapitals in den Personen umsetzt und verwirklicht. Schon wo Selbstsucht allgemein herrscht und Selbstlosigkeit erzwingt, wo alles Bestimmte nur gleichgültig bleiben kann, zerstört sich jede Wahrheit, indem die Unterschiede und Gegensätze, die ihr zugrunde liegen ihren Sinn verlieren (siehe abstrakt menschlicher Sinn).
Aber erst in der Dekadenz wird Selbstlosigkeit wirklich sinnlos und sucht sich ihren Edelmut daher auch nicht mehr in wirklich sinnlichen Lebenszusammenhängen, sondern in der Entgegnung auf diese, die den herausragenden Unsinn dadurch verbrüdert, dass er schlicht und einfach ästhetisch prominent gemacht wird. Dieser Zusammenhang der Sinnlosigkeit erscheint nun als ästhetische Gestalt und als ästhetisches Interesse allgemein. Doch er kann nicht wirklich als Allgemeines bestehen. Er verwirklicht sich allgemein nur in der hervorragenden Gestalt, in seiner ästhetischen Prominenz.
Die hierin hervorgekehrte Selbstwahrnehmung wird nun tatsächlich in den Lebensgestaltungen des Zeitgeistes als "Lifestyle" wahrgehabt. Die gesellschaftliche Wahrnehmung erscheint hierdurch verkehrt: Die Prominenz ist nicht Wahrnehmung einer wirklich gesellschaftlichen Gestalt der Wahrnehmung, sondern die gesellschaftlich bedurfte Wahrnehmung. Sie ist die Notdurft der Wahrnehmung in einer Gesellschaft, in welcher die Menschen keine Beziehung mehr zu sich selbst haben. Die Art und Weise des Vortragens dieser prominenten Gestalten wird zu einem allgemein notwendigen Zweck, zu einer Gesellschaft, in der sich nur Gefälligkeit und Gefallsucht ausbreiten kann. Das Prominente wird zum Maß der Durchsetzungsfähigkeit des ästhetischen Willens, zum Maßstab der öffentlichen Wahrnehmung als allgemeine Selbstwahrnehmung.
Allgemein tut sich im modischen Zeitgeist die ästhetische Abgrenzung gegen das Individuum hervor. Im Einzelnen entwickelt sich darin die Urteilsbildung einer kulturellen Führerschaft, einer Kulturelite. Ihr Urteil steht gegen jede bestimmte Selbstwahrnehmung und vermittelt durch ihre allgemeine Selbstwertigkeit ein allgemeines Minderwertigkeitsgefühl, was zur Grundlage aller gesellschaftlichen Ressentiments wird.
Als Inhalt der prominenten Wahrnehmung entsteht somit die ästhetische Prominenz des politischen Zwecks im allgemeinen, welche sich in der Voraussehung des Hervorragenden zu verwirklichen strebt. Im einzelnen entsteht so die Vorsicht, in welcher die allgemeine Voraussicht sich geltend macht. Der Reiz der Wahrnehmung, hat seinen Sinn verloren und muss nun in seinem bloßen Bedarf mächtig werden, im Bedarf nach einen Sinn, der nur noch durch seine Prominenz existiert, durch die Ereignisproduktion einer Eventkultur, die gerade den Sinn vernutzt, der sich von ihre aufreizen lässt. Das Erleben einer Kultur voller Events erweitert zwar den Lebensraum des Überlebens, indem er sich auf nahezu beliebig viele Menschen ausdehnen und verdichten lässt, nicht aber das Leben selbst. Ein Leben, das sich seinem Sinn und damit auch seiner Kraft nicht mehr gewiss werden kann, das keinerlei Bewahrheitung seines Gehalts mehr erkennen kann, hat sich aus jeder sinnlichen Beziehung herausgesetzt und seine Entsinnlichung in den Zweck des Überlebens jedweder Sinnwidrigkeit gestellt. Es pervertiert sich somit gegen seinen eigenen Grund, dem Entstehungeprozess der Selbstgefühle durch bestimmte Ereignisse ihrer gewohnten Wahrnehmungsverhältnisse.
Die Bedeutung des hierin wirksamen Ereignisses zeigt sich in den Pervertierungen zwischenmenschlicher Beziehungen. In Perversionen kehrt sich das Verhältnis von Ereignis und Selbstgefühl um. Ursprünglich aus der Identität von Gefühl und Empfindung, also als Empfindung von Gefühlen zu bestimmten Ereignissen entstanden, soll in der Perversion Selbstgefühl durch bestimmte Ereignisse erzeugt werden. Wo sich ihre Beziehung im gewöhnlichen Leben aufgelöst hat, muss die daraus entspringende Erregung durch Ereignisse befriedigt werden, in denen sich Empfindungen als Gefühl seiner selbst identifizieren lassen.
In den Sinnwidrigkeiten einer Kultur, in welcher der Leib selbst nur Sache ist, wird jede Kultur zu einer Sache, die ihre Beziehung entmenschlicht, sich jeder Ästhetik ihrer Selbstwahrnehmung entzieht, indem sie Ästhetik zu ihrem leibhaftigen Medium, zu ihrem völlig veräußerten Mittel macht. Darin hat jede Beziehung nicht nur keinen Sinn, sondern wird in ihrem Verlangen nach Sinn selbst schon verhöhnt, wird zu einer Sache, die jeden Sinn ausdrücklich meidet: Die Reizkultur erhebt sich über ihre eigene Gründe, wird zynisch gegen das Verlangen, über das sie sich erhebt, worin sie sich aber selbst auch unentwegt begründet. Es ist diese Abhebung daher nicht unbedingt eine elitäre, wohl aber eine, die eine Selbstermächtigung durch Meidung jeder Beziehung betreibt, Grundlage einer Selbstveredelung, die jeden Reiz umkehrt in eine Selbsterregung gegen seine Wirklichkeit. Die Abhebung von den gewöhnlichen Begierden wird zu einem Selbsterregungsprinzip, in welchem die Besonderung durch Verkehrung zu einem hinterhältigen Trieb wird.
Der sinnliche Reiz gerät in eine veräußerte Körperwelt voller Nutzeffekte, die zwar im Erleben imponieren, in ihrer Beziehung aber sich schnell entleeren, sich sinnlos machen, weil ihr Sinn nur verbraucht wird. Das macht eben jede Nutzung aus, die sich von der Entstehung seiner nutzbaren Eigenschaften abgehoben hat. Deren Sinn benötigt vielfältige Beziehungen, um sich zu einem menschlichen Sinn zu entwickeln, ist aber schnell außer sich, wenn er nurmehr dem Anreiz für Beziehungen dient, die sich auf Ereignisse reduzieren, also eine Geschichte ihrer Verhältnisse schon von vorn herein aufgegeben haben, indem sie lediglich Zustände eines Verhaltens kassieren.
Dekadenz tritt in totalisierten Krisenzeiten auf, in denen sich auch kulturell die ökonomische Krise nicht mehr auffangen lässt und die Möglichkeiten der Kultur, Ereignisse und Erlebnisse des Überlebens zu stiften, zu ihrer eigenen Zersetzung gelangt sind. Sie ist von daher eine sinnliche Agonie, eine pervertierte Zerstückelung, die sich am ästhetischen Schein gleichgültiger Veräußerung zusammenfindet, indem dieser zur privaten Innerlichkeit sich verkehrt und als solche auch sich äußert. Die Perversion ist die Hochzeit der Dekadenz, wie auch ihr Zerfall und ihre letztliche Selbstzerstörung.
Die Gewalt, die darin schlummert, ist die Gewalt, die ihr vorausgesetzt: Die Zerstörung von Lebenszusammenhängen, die keinen Sinn mehr haben, weil sie längst enteignet sind. Der Zynismus der Dekadenz ist deshalb die eigentliche Bestätigung des Zerfalls, da er die Enteignung leugnet und in diesem Willen sich formiert. Dekadenz ist die Herrschaftsform von Enteignung, die keinen Sinn mehr hat und die daher ihren eigenen Grund verleugnen muss und verleugnen will, der überkommene Tod, der sich als Leben gibt.