Realsozialismus

Aus kulturkritik

"Gegenüber der immensen Fortentwicklung der großen Industrie seit 1848 und der sie begleitenden verbesserten und gewachsenen Organisation der Arbeiterklasse, gegenüber den praktischen Erfahrungen, zuerst der Februarrevolution und noch weit mehr der Pariser Kommune, wo das Proletariat zum ersten Mal zwei Monate lang die politische Gewalt innehatte, ist heute dies Programm stellenweise veraltet. Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, dass die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann. (Siehe Karl Marx, der Bürgerkrieg in Frankreich, London 1871), wo dies weiter entwickelt ist." (Marx, Kritik des Gothaer Programms MEW 4, S. 482)

Eine Kommune war für Marx und Engels „kein Staat im eigentlichen Sinne mehr“ (siehe hierzu auch internationale Kommunalwirtschaft). Ihre Grundsätze übernimmt Lenin für die bevorstehende sozialistische Revolution in Russland. Zugleich wendet er sich aber gegen „anarchistische Träumereien“ von der Abschaffung des Staates, der er das „Absterben“ des Staates gegenüberstellt. Einig mit den Anarchisten ist er sich darin, „dass die Befreiung der unterdrückten Klasse unmöglich ist nicht nur ohne gewaltsame Revolution, sondern auch ohne Aufhebung des von der herrschenden Klasse geschaffenen Apparats der Staatsgewalt“. Die Frage, wie der Staat in ein sozialistisches Gemeinwesen transformiert werden kann blieb dennoch unbeantwortet und eröffnete den Revisionisten eine weite Flur von Meinungen.

Maßgebend für die Arbeiterbewegung wurde in Deutschland die mitgliederstärkste Partei, die SPD, namentlich durch Karl Kautsky, der nach Engels‘ Tod im Jahr 1895 zum international anerkannten Chefideologen geworden war. Kautsky schrieb 1912: „Und das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt dabei das gleiche, das es bisher gewesen: Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung.“ Es war somit die Gründeridee des Ferdinand Lassalle geblieben, die eine Revolution der Arbeiterklasse mit dem Gedanken einer Entwicklung der Reformationen des bürgerlichen Staates ersetzte, durch den sich die Klassengegensätze auf Dauer von selbst abschaffen würden und den Staat unnötig machen würden. Marx hatte sich gegen die Unendlichkeit solcher Kämpfe und ihrer Verluste am Beispiel der Lohnkämpfe gewehrt:

"Anstatt der unbestimmten Schlußphrase des Paragraphen, "die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit", war zu sagen, daß mit der Abschaffung der Klassenunterschiede von selbst alle aus ihnen entspringende soziale und politische Ungleichheit verschwindet." (Marx, Kritik des Gothaer Programms MEW 19, S. 23f)

Realsozialismus besteht seitdem jedoch aus Anforderungen an den Staat, die diesen nicht wesentlich verändern können, sondern ihn als Machtmittel zur Entwicklung einer "sozialistischen Gesellschaft" nutzbar machen soll, die also alle bürgerlichen Inhalte lediglich von ihrem politischen Übel entheben wollen, um damit ihre substanzielle Bedeutung zu hintergehen, also den Klassenkampf lediglich als Kampf um die Politik als solche, um eine "reine Politik" des allen gerechten politischen Willens durchzuführen.

"Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert als Grundlagen des Staates: Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer und obligatorischer Stimmabgabe aller Staatsangehöriger vom zwanzigsten Lebensjahr an für alle Wahlen und Abstimmungen in Staat und Gemeinde. Der Wahl- oder Abstimmungstag muß ein Sonntag oder Feiertag sein. Direkte Gesetzgebung durch das Volk. Entscheidung über Krieg und Frieden durch das Volk. Allgemeine Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Abschaffung aller Ausnahmegesetz, namentlich der Preß-, Vereins- und Versammlungsgesetze; überhaupt aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung, das freie Forschen und Denken beschränken. Rechtsprechung durch das Volk. Unentgeltliche Rechtspflege. Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat. Allgemeine Schulpflicht. Unentgeltlicher Unterricht in allen Bildungsanstalten. Erklärung der Religion zur Privatsache." (Marx, Kritik des Gothaer Programms MEW 19, S. 24f)

Der so genannte Realsozialismus gründet auf einem Verstand, den Ferdinand Lassalle als Grundlage für einer sozialistischen Partei verfasst hatte. Darin sollte eine Gesellschaft verfasst werden, in der das Produkt der gesellschaftlichen Arbeit als ausschließlicher und hierdurch Reichtum einer Arbeiterklasse verstanden wird (siehe Arbeiterbewegung), die sich gegen die Verteilungsungerechtigkeit der bürgerlichen Gesellschaft herausgebildet habe und die "gerechte Verteilung" des gesellschaftlichen Reichtum verfassen müsse, der aus der der Natur als "Quelle aller Arbeit" entwunden sei. Sozialismus wäre demnach die Gesellschaftsform einer "gerechten Macht" der Naturaneignung, die den Stoffwechsel der Natur im Nutzen der Menschen quasi vergesellschaften soll und sich von daher als gesellschaftliche Macht für (oder gegen) Menschen zu statuieren hätte (siehe sozialistischer Staat). Marx hatte diesen Verstand in seiner Kritik des Gothaer Programms zur Gründung einer Arbeiterpartei fundamental abgewehrt und hierzu geschrieben, dass er dabei "um seine Seele" gekämpft hätte.

Der so genannte Realsozialismus basiert also auf einem Verständnis von Sozialismus, worin Gesellschaft lediglich als eine gerechte Form der Verteilung von Arbeit und ihrer Produkte begriffen ist. Damit wird Gesellschaft als bloßes Verteilungsverhältnis einer Gemenschaft verstanden, die sich durch Arbeit begründet und somit selbst ein Ausführungorgan der Arbeitsorganisation darstellt. Diese Auffassung war von Marx schon bezogen auf das Gründungsprogramm der Sozialdemokratie, dem Gothaer Programm, heftig kritisiert worden (siehe Verteilungsgerechtigkeit). Eine solche Gesellschaft vermittelt zwar Arbeit, bleibt aber gegen die Bildung ihrer Inhalte, die Einheit von Arbeit und Bedürfnissen, selbständig und äußerlich.

Der Realsozialismus will sich von der bürgerlichen Gesellschaft vor allem darin unterscheiden, dass er eine von bürgerlichen Überbau-Interessen "gereinigte" politische Ökonomie betreibt (siehe Widerspiegelungstheorie). Ohne es selbst begriffen zu haben, wendete er sich damit gegen die Kritik der politischen Ökonomie, wie sie Karl Marx unternommen hatte, verstand sich aber als praktischen Marxismus. Die folgenschwerste Stilblüte dieses Strukturalismus war das Verständnis des Wertgesetzes als ein notwendiges Gesetz gerechter Verteilung von Arbeitszeit, als Maßstab gesellschaftlicher Entwicklung. Damit wurde Arbeitszeit selbst unmittelbar zur politischen Größe und als solche staatlich bestimmt und sanktioniert. Der politische Zweck der Arbeit als Bestimmung der Arbeitszeit war damit absolut staatlich und führte zu einer Art Arbeitszwang für den Fortschritt des Staatsbürgertums. Die Folge war eine Staatsdiktatur, welche unmittelbar Kapital für den Staatszweck aufhäufte und damit den kritischen Gehalt des Marxismus in sein Gegenteil verkehrte. Er scheiterte damit folgerichtig an seiner Unfähigkeit, einen Fortschritt für die Geschichte der Menschen zu ermöglichen.

"Es versteht sich ganz von selbst, daß, um überhaupt kämpfen zu können, die Arbeiterklasse sich bei sich zu Haus organisieren muß als Klasse, und daß das Inland der unmittelbare Schauplatz ihres Kampfs. Insofern ist ihr Klassenkampf, nicht dem Inhalt, sondern, wie das "Kommunistische Manifest" sagt, "der Form nach" national. Aber der "Rahmen des heutigen nationalen Staats", z.B. des Deutschen Reichs, steht selbst wieder ökonomisch "im Rahmen des Weltmarkts", politisch "im Rahmen des Staatensystems". Der erste beste Kaufmann weiß, daß der deutsche Handel zugleich ausländischer Handel ist, und die Größe des Herrn Bismarck besteht ja eben in seiner Art internationaler Politik." (Marx, Kritik des Gothaer Programms MEW 19, S. 24)

Wolf Biermann zum Staatssozialismus "Ballade von den verdorbenen Greisen"": https://www.youtube.com/watch?v=C3oY2vG6myI