Kant

Aus kulturkritik

"Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir." (Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, A 289)

Diese Auskunft über sich hat Immanuel Kant (1724-1804) selbst gegeben und damit auch getroffen, was seine "zwei Seiten" im Wesentlichen ausmachen: Die Metaphysik seines Vernunftbegriffs in der "Kritik der reinen Vernunft" und dem praktischen Nutzen seiner Moral der Aufklärung, die Moral der Mündigkeit als wesentliche Aussage eines emanzipatorischen Selbstverständnisses in seiner "Kritik der praktischen Vernunft". Beides suchte er zu vereinen in seiner "Kritik der Urteilskraft". Allerdings ist er als erster Philosoph einer allgemeinen Begrifflichkeit bürgerlicher Verständigung (siehe auch Verstand) auf deren Doppelbödigkeit zwischen Vernunft und Moral noch jeweils unvermittelbar einseitig verblieben, einerseits in seiner biologischen Anthropologie, die z.B. den Nationalsozialisten als Begründung ihrer Rassenlehre dienen konnte, und dem praktischen Moralismus seines "Kategorischen Imperativs" auf der anderen Seite, der einen Selbstwiderspruch im bürgerlichen Bewusstsein betreiben sollte. Es war ihm mit seiner Auffassung ihrer Dialektik nicht möglich eine wirklich emanzipatorische Philosophie zu entwickeln, was ihm von einigen der ihm nachfolgenden Denkern vorgehalten wurde, die in seiner "Kritik der Urteilskraft" keine Beziehung anerkennen konnten. Immerhin bezog er sich auf die Gedankenlosigkeit der modernen Philosophie – allerdings nur über eine Metaphysik der menschlichen Urteilskraft, die sich ihm nur aus einem unerklärlichen Gegensatz von Anschaulichkeit der Wahrnehmung und Denken als Begreifen erschließen konnte. Der Gegensatz von Wissenschaftlicher Wahrnehmung und ihrer Erkenntnismethode wurde ganz allgemein zum Anliegen und Verhängnis einer radikalen Aufklärung durch seine Trennung von Begriff und Sache, durch eine Philosophie einer im Allgemeinen abgehobenen´Bewahrheitung seiner Anschauungen durch seine Gattungsbegriffe, die eine Einheit von Begriff und Vernunft des Gedankens als Inbegriff einer Gesinnung einforderten (siehe Metaphysik).

„Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A51/B75).

Kant reflektierte den modernen Menschen, wie er nach Einführung der Technologie, besonders der Arbeitsmaschine und der Druckpresse, sich erkennend und handelnd als Subjekt jenseits der göttlichen Vernunft identifizieren lässt. Geistig war der Feudalismus noch nicht überwunden und praktisch war die Selbsterkenntnis der Menschen schon vollständig delokalisiert und vom Gottesgnadentum unabhängig. Mit der Abweisung voraussetzungsloser Erkenntnis, die vom Menschen als metaphysische Vernunft nur nachzuvollziehen sei, stellte er die Frage der Erkenntnis neu im Sinne der Aufklärung, deren herausragender Philosoph er wurde: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit." (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, A 481)

Durch das Verlassen der absoluten (der göttlichen) Vernunft war die Frage gestellt, was Reflexion selbst ist, wodurch das Nachdenken möglich und wodurch es beschränkt ist. Es ging darum, die Gegensätze der Wirklichkeit, ihre Entzweiung von Geistigem und Praktischem selbst zum Anliegen der Erkenntnis zu machen.

"Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatismus der Metaphysik, d.i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist." (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft: Vorrede zur zweiten Auflage, BXXX)

In seinem "modernen" Subjekt soll der Zusammenhang von subjektiver Wirklichkeit und objektiver Welt gestiftet werden, ohne dass dieser selbst unmittelbare Wirklichkeit haben müsse. Zum einen wendet sich Kant gegen jede übergeschichtliche Erkenntnis, damit also auch gegen die Erkennbarkeit von Geschichte als solche, zum anderen aber setzt er Geschichte als bestimmend voraus, als Erzeugungsprozess, der gegenständlich, aber auch Gegebenheit sei. Das Material der Erkenntnis, das Ding an sich (z.B. Natur) sei für das Subjekt prinzipiell unerkennbar, müsse also in seiner Gegebenheit hingenommen werden. Kant bestimmte den Sinn des Erkennens in "transzendentaler Subjektivität", die durch die ästhetischen und die logischen Ausdrucksformen gestaltend tätig sei und sich im jeweiligen Fortschreiten der Menschheit niederschlage und ansonsten seinen Gegebenheiten wie seiner Natur (synthetische Apperzeption a priori) zu folgen habe. Nach Engels bedarf es keiner Selbstreflexion der Vernunft:

"Um zu wissen, was unser Denken ergründen kann, nützt es nichts, 100 Jahre nach Kant die Tragweite des Denkens aus der Kritik der Vernunft, der Untersuchung des ErkenntnisInstruments, entdecken zu wollen; ... Was unser Denken ergründen kann, sehen wir vielmehr aus dem, was es bereits ergründet hat und noch täglich ergründet." (Friedrich Engels, Marx-Engels-Werke 20, Seite 506f)

Emmanuel Kant wollte die Wahrheit einer Erkenntnis und ihrer Urteile durch die Art ihrer Vernunft geschieden verstehen. Er leitete daher hieraus sein Erkenntnisinteresse aus seinem Verständnis dieser Vernunft ab, die er als Grund und Wegbereiter des Verstandes ansah:

"Die Vernunft bereitet also dem Verstande sein Feld" (Immanuel Kant:, Kritik der reinen Vernunft)

Da hierdurch die Vernunft schon vor dem Verstehen stehen sollte, also deren Boden zu bereiten hatte, geriet sie in einen hermeneutischen Zirkel zwischen begreifen und Begriff, zwischen einem voraussetzungslosen (apriorischen) theoretischen Sein und gegenwärtiger Bestimmtheit, die darin zu bewahrheiten wäre. Vernunft kann sich demnach nicht geschichtlich im und durch Verstand entwickeln. Stattdessen sollte das Herabsteigen aus der Vernunft den Verstand ordnen und begründen und sich zugleich in seinen Erkenntnissen bewahrheiten. Diesen Widerspruch wollte Kant durch seine (Ein-)Teilung der Vernunft in einen theoretischen und praktischen Sinn, der sich in der Urteilskraft darstellen und vermitteln würde. Er verstand deren Vernunft also einerseits übergeschichtlich, indem er sie aus einem natürlichen Gattungsbegriff begründet verstand, der zugleich durch seine praktische Gegenwärtigkeit unentwegt hinterfragt und transzendiert werden müsse.

Mit den marxistischen Grundlegungen des historischen Materialismus wurde das Begreifen selbst aus seiner geschichtlichen Grundlage, aus dem konkreten Sein der geschichtlich entwickelten Lebensverhältnisse der Menschen heraus als deren geschichtlich bestimmtes Bewusstsein verstanden. Im Prozess einer Analyse soll ein Urteil diesen abschließen und zur Entscheidung darüber kommen, was sich daraus als ihr Ur-Teil substanziell ergeben hat. Urteile werden gesprochen, weil und sofern sich die Teile nicht in ihrem wirklichen Zusammenhang erkennen lassen und eine Ur-Teils-findung im Ganzen ihrer Interpretationen und Gewohnheiten nötig haben. Darin soll sich die Wahrheit ihrer Beziehungen erweisen, die im beliebigen Nebeneinander der Meinungen oder Auffassungen zur Bewertung ihres Gegenstands geäußert werden. Es sind dies nicht nur die Beziehungen, sondern auch die Ereignisse in den Verhältnissen der Menschen, die als scheinbar unabhängige Gegebenheiten nebeneinander geschehen. Urteile werden zu einer Frage des Rechts, wenn und wo diese einen Konflikt erzeugen und sie deshalb politisch bewertet werden müssen, wo das eine das andere ausschließt und es dennoch zu einem Schluss kommen muss. Das verlangt den Beweis, dass sie unterscheidbare Gründe haben, deren Bewertung den Abschluss ihrer Konflikte und die Widersprüche des Meinens und Dafürhaltens bewirken soll.

Kant's Philosophie ist ein Fortschrittsglaube des Denkens selbst, der Glaube an ein Subjekt, dessen Sinn im Fortschritt selbst erfüllt sein soll (siehe hierzu Aufklärung). Dieses Moment ist im Marxismus insofern übernommen und aufgehoben, als dort der Reichtum der Menschen als Dasein ihrer Subjektivität aufgefasst wird - wenn auch in entfremdeter Form. Diese kann aber nicht als Notwendigkeit des Fortschritts, sondern als Notwendigkeit der menschlichen Emanzipation über ihre Bedrängung hinauswachsen, die ihre kapitalistische Existenzform bestimmt und ausmacht (siehe auch Existenzverwertung).

Bei Kant ergibt sich der Verstand aus der Apperzeption des Gegebenen, aus den Erfahrungselementen, aus welcher sich selbst Erkenntnis konstituiert. Die Vernunft ist die hieraus entwickelte subjektive wie objektive Rationalität der Erfahrung und des Verhältnisses zu den Gegenständen der Erfahrung. Durch sie wird menschliches Sein in seiner Fortschrittsqualität als sinnvoll für den Menschen "gestiftet": die Welt besteht in einem "An sich" und einem "Für uns" und sie wird vom Menschen in einem vernünftigen Urteil zum allgemein Guten weiterentwickelt und zum schöneren, fortgeschrittenen Menschsein gestaltet. Hierfür sind vernünftige Prinzipien "erkenntnisleitend" zu erfassen, die kategorial anwendbar sein müssen (siehe kategorischer Imperativ) .

"Das Subjekt der Aufklärung ist ein vernunftgeleitetes Subjekt, Vernunft liefert die gemeinsame Grundlage der subjektiven Existenz. Die Forderung nach der Öffentlichkeit des Vernunftgebrauchs rückt das Unternehmen der Aufklärung ab von einzelsubjektiven Träumen der Einbildungskraft, weiters von traditionellen oder falschen Autoritäten, und rückt sie in das Licht eines kollektiven Fortschritts der Menschheit, zu dem wir individuell beitragen können. Kant radikalisiert gewissermaßen den grundlegenden Dualismus von Geist / Materie (Diesseits / Jenseits, oder auch: Sein / Schein) in einer Philosophie der tranzendentalen Subjektivität, in der zeitabhängige und uns zugängliche Erscheinungen abhängig gemacht werden von einer universalen, reinen Grundstruktur vernünftigen Daseins, jenseits von Geschichte und Konventionen." (Frank Hartmann)

Das reflexive Bewußtsein macht in seinem vernünftigen Urteilsvermögen das Transzendentalsubjekt aus und steckt im Ich eines jeden einzelnen Menschen, wie er allgemein zu verstehn ist (dies hat die Psychoanalyse auch so übernommen). Im "Ich" sammelt sich die Welt, wie sich darin auch menschliche Subjektivität aus den verschiedenen Wahrnehmungen zusammenfasst. Für Kant sind die hieraus geschaffenene Aktivitäten die wirklichen Tätigkeiten des "Selbst." (Gellner 1995). Im Urteilsvermögen der Vernunft ist somit eine Allgemeinheit der Entscheidung für sich als Entscheidung für alle unterstellt. Indem das Ich im Sein aller urteilt, bestehe für die Allgemeinheit wesentlich neues: Fortschritt als Fortschreiten der menschlichen Vernunft. In ihr versammle sich somit der Fortschritt für alle, indem jeder einzelne Mensch darin sich allgemein wissen kann und soll. Es ist die Grundlage des bürgerlichen Selbstverständnisses als voraussetzungsloses Subjekt und das Verständnis einer Geschichte, die aus diesem Subjekt gegründet sei, das sein einzelnes Gewordensein darin aufgehoben hat, allgemeines Subjekt zu sein - im Grunde ein durch sich selbst politisches Subjekt, Grundlage der bürgerlichen Demokratie.

Der wesentlichste Punkt der Aufklärung, ihr Fortschrittsglaube, ist auch der prekärste bei Kant. Der Fortschritt geschieht bei ihm schon im Imperativ des vernünftigen Handelns, das quasi eine Verantwortung gegenüber der menschlichen Geschichte zu erfüllen hat: Es soll nur vernünftig sein, was es tut, um die Vernunft aller zu vollziehen, sich selbst verallgemeinern um selbst allgemein zu sein. Im Vollzug seines Handelns hebt sich jedes Subjekt unmittelbar darin auf, dass es sich objektiv bestimmt; es ist im Subjektsein objektive Vorweggenommenheit seiner Gegenständlichkeit (Objektivität). Was in der Aufklärung an Fortschritt als ontologische Notwendigkeit unterstellt ist, das kann ebenso gut zur Lähmung und Selbstverstümmelung der Menschen führen (siehe Aufklärung), weil das Gebot der Vernunft sich prinzipiell auch selbst verbietet: Ihr Fortschritt lässt keinen Rückschritt zu. Wer nicht tut, was vernünftig sei, gilt als nichts. Seine Vernichtung kann daher durchaus ebenso vernünftig sein, wie es der kategorische Imperativ verbietet, dass es sein darf.

Die Vernunft, jene Leistung des Subjekts, wird unter der Hand zu einem Gebot für die Subjekte, das Vernünftigsein zur stillschweigenden Selbstverständlichkeit einer Anpassungsforderung an die Gegenheiten, zu einer sublimen Unterwerfung des wirklichen Subjekts unter das historische. "Sei doch vernünftig!" - das sagen alle, die ihr Sein als Vernunft gegen das Aufbegehren wenden können, also die Vertreter der herrschenden Moral. Das hatte Kant zwar so niemals gewollt, aber seine Philosophie hat es legitimiert.

Durch Marx wurde die Aufklärung darin aufgehoben, dass der Mensch nicht nur das Ding, sondern sich selbst in der gegenständlichen Welt, in seiner wirklichen Lebenspraxis erkennt, worin sich sein Subjekt- und Objektsein historisch vollzieht, also keine Ontologie hat, sondern die wirkliche menschliche Geschichte in all ihren Epochen und Kämpfen. So lässt sich auch bei Marx ein geschichtlicher Sinn konstatieren (der Kommunismus), der aber nur als wirkliche Bewegung der Geschichte aus ihrer Vergangenheit und Gegenwart begriffen ist (siehe historischer Materialismus). Alle Erkenntnistätigkeit des Menschen geschehen nur hierin haben kein hiervon getrenntes Erkenntnisvermögen, schon gar nicht ein "Erkenntnis leitendes". Das schließlich meint auch seine Absage an die Philosophie, welche die Welt nur interpretieren würde, um ihre Vorstellungen und Nebelschleier als Affirmation des Bestehenden, als letztliche Theologie des Soseins auszubreiten.