Theorie

Aus kulturkritik

"Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem [am Menschen] demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen Theorie, also für ihre praktische Energie, ist ihr Ausgang von der entschiedenen positiven Aufhebung der Religion. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." (MEW 1, S. 385).

Eine Wissenschaft muss die Zusamenhänge der allgemeinen und gegenwärtigen Probleme eröffnen und handelbar machen, indem sie ihre gesellschaftlich gebildete und reflektierte und als durch ihr Wissen verantwortliche Urteile hierüber erarbeitet. Alle Urteile haben ihren wahren Sinn in dem, was sie für das Leben der Menschen in ihren Verhältnissen schlussfolgern und Bewahrheiten (Bewähren), was sie darin als Sinn ihrer Urteilskraft entdeckt haben. Im Einzelnen kannn es zunächst nur Ausdruck ihrer persönlichen Wahrheit, ihrer Wahrnehmungsidentität sein (siehe z..B. Kritische Theorie, Poaitivismus, Idealismus, Nominalismus, Phänomenologie, Pragmatismus, Strukturalismus, Systemtheorie usw.). Daraus ergeben sich die Gründe der Analyse. die Elemente der Argumentation über ihre Subatanz (siehe auch Dialektik).

Eine Theorie stellt - zunächst ähnlich wie ein Gemälde - verschiedene Beziehungen in einen Zusammenhang, wodurch Hintergründe und Einflüsse der Wahrnehmung von Ereignissen in den Lebensverhältnissen der Menschen bewusst gemacht werden können. Aus der Dialektik ihrer Analyse lässt sich schließlich auch die wissenschaftliche Beweisführung für ein Bewusstsein über die Logik des ganzen Zusammenhangs eines Systems herausarbeiten. Bis dahin ist Theorie ein noch unerfülltes Erkenntnisinteresse an einer Emanzipation gegen herrschende Gewalten (siehe Kritik der politischen Ökonomie) und Gewohnheiten voraus (siehe Kritik der politischen Kultur) und verhält sich hierzu als theoretisches Bewusstsein einer Aufklärung. Als Wissenschaft will sie die Gründe der Ursachen von Fakten und Ereignissen erklären, die das Sein der Menschen, ihr Menschsein beherrschen. Und sie beschreibt zu diesem Zweck die Zusammenhänge von Tatsachen, die ihre Vorherrschaft im Allgemeinen begründen und sich zugleich anders verhalten, als sie für die bloße Wahrnehmung in ihrem einzelnen Dasein oder Ereignis erklärlich sind. Weil sie innertheoretisch, also getrennt von ihrem Gegenstand grundlos und also tautologisch erscheinen (siehe hierzu auch Widersinn) sucht Theorie durch ihre Positionen einen Sinn oder Zweck ihrer Erscheinungen zu begreifen, um den Grund zu erkennen, warum er nicht wirklich wahr sein kann und deshalb aufzuheben ist.

An sich will Theorie durch ihre Thesen die Logik der Entwirklichung einer Geschichte beschreiben, in der das Einzelne sich in der Anschauung der Einzelheiten ohne deren Analyse in ihrem Zusammenhang nicht wirklich erklären lässt. Was sie im Einzelnen wirklich sind, können sie rein logisch, also theoretisch im Allgemeinen nicht sein. Der logische Ausgang einer Theorie ist daher, was diese im Allgemeinen, was sie wesentlich sind, was also die Allgemeinheit ihres Erkenntnisinteresses formuliert, was ihr im Allgemeinen objektiv und substanziell gilt und sich in ihren Urteilen in der Beziehung auf das wesentliche Element ihres Gegenstand bezogen auf die Substanz ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse umsetzt, also im Einzelnen so wahr ist, wie im Allgemeinen.

Eine Theorie besteht also darin, dass sie den Grund einer Beziehung aufdeckt, der durch den Augenschein nicht zu erkennen ist (siehe hierzu auch Kritische Theorie). Sie ist zunächst ein sprachliches Reflexionsmodell ihrer Bedeutungen, mit denen bestimmte Zusammenhänge einer Wirklichkeit formuliert, als ihre Formbestimmung analysiert und schließlich durch eine dem entsprechende Argumentatiion auf ihren Begriff gebracht werden. Der sollte die Wahrheit über das Wesen ihres Gegenstands durch bestimmte logische Schlussfolgerungen erschließen können. Das ist die Herangehensweise der Wissenschaft (siehe auch Erkenntnistheorie). Sie setzt das Bedürfnis nach der Erklärung ihres Gegenstands voraus, der nicht das sein kann, als was wie er erscheint, dessen Dasein einen Widersinn offenbart, dessen Wesen durch theoretische Bemühung erst erschlossen werden muss. Sie versucht ihrem bestimmten Erkenntnisinteresse folgend Argumente hierfür zu finden und zu beweisen. Hierzu muss sie ihn so analysieren, dass seine wesentlichen Teile und Eigenschaften erkennbar werden, die sich der Anschauung entziehen, in ihrer Wirklichkeit abwesend wirksam sind. Das theoretische Bewusstsein ist von daher solange vom praktischen Bewusstsein verschieden, wie sich das theoretische Wissen nicht in der Lebenspraxis wirksam wird - entweder weil es nicht fertig gebildet, oder falsch oder unvollständig entwickelt ist.

"Theorie will benennen, was insgeheim das Getriebe zusammenhält." (Adorno, Sozioliogie und Forschung, in: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1970, S. 81)

Theorie kann den Zusammenhang ihres Getriebenes wie es zu sein scheint, durch Schlussfolgerungen aus ihrer Analyse ergründen, die ihren abwesenden Sinn erweisen kann. Sie kann aber auch in einem Plan aufgehen, sofern sie etwas gänzlich Neues herstellen oder Altes verbessern will, um es sich anzupassen. Und sie kann etwas aufheben, sofern sie es als widersinnig befindet (siehe Dialektik), also etwas wesentlich anderes daraus werden soll, als es bislang da ist (siehe Dasein).

"Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. ... Werden die theoretischen Bedürfnisse unmittelbar praktische Bedürfnisse sein? Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen." (MEW 1, S. 386).

Um eine Frage zu beantworten, die sich auf etwas Ungewisses bezieht, entsteht zunächst eine Theorie, die verschiedenen Möglichkeiten einer Antwort und Begründung nachgeht, die durch Analyse und Beweis erst zu einem Wissen gebracht werden können. Das mag oft nur ein Gedankenspiel sein, die Formulierung einer Vorstellung, einer Interpretation oder eines Gedankens, und sich in einer rein intelligiblen Welt bewegen, ohne dass es die darin reflektierte Sache schon praktisch und wirklich betroffen hätte. Es kann sich um die Mutmaßung eines Zusammenhangs oder einer Relation (Hyphothese) oder auch um ein Moment des theoretischen Bewusstseins selbst handeln, z.B. um Fragen der Erkenntnis oder der Gerechtigkeit. Theorie selbst bleibt im Ungewissen und ist von daher dem Gewissen eher dienlich als dass sie schon Wissen wäre, das Wirklichkeit erkären oder verändern kann. Sie deklariert stattdessen, was sie für gut und was für böse befindet und bleibt soweit im Kern immer nur eine Moral.

Theorie bezieht sich zwar irgendwie immer auf die Welt, gleich, ob sie sich darin verwirklichen will oder eine Theorie ihrer Wirklichkeit ist. Aber ihr Vorstellen und Interpretieren verliert sie erst, wo ihr dies nötig ist, wo die bloße Anschauung in ihrer Unmittelbarkeit nicht hinreicht, um einen Gegenstand oder ein Verhältnis zu erkennen. Indem die Wahrnehmung sich im Unterschied zu dem befindet, was sie wahr hat, kann sie ihn erst erkennen, wenn sie sich von ihm auch untterscheidet, kritisch gegen ihren Gegenstand ist. Kritische Theorie ensteht dort, wo sie sich als Begriff ihrer eigenen Notwendigkeit, ihren Gegenstand zu erkennen, bewahrheiten muss, also zu gegenständlichem Wissen wird, das einem Unding auf der Spur war und im Begriff steht, sich gegen dieses zu emanzipieren. Indem Theorie auf diese Weise selbst praktisch wird, sich aus dem theoretischen Bewusstsein in ein praktisches Bewusstsein fortbildet, wird sie als Begriff des Grundes einer Entfremdung zur Grundlage eines Selbstbewusstseins gegen diese.

Theorie sucht einen Begriff, durch welchen sich ihr Gedanke auch beweisen lässt. Begriffen werden muss, was Not tut, was ohne Begriff nicht zu fassen ist, was keine wirkliche Wirkung hat und also erst aus der Wirklichkeit erschlossen und in der Logik seiner Schlussfolgerung als wahr bewiesen werden muss. In dieser Notwendigkeit unterscheidet sich Theorie von Religion: Gott ist keine Theorie; er ist Subjekt wie Objekt des Glaubens an die Unendlichkeit des Menschen, an den von seiner Wirklichkeit bereinigten Menschen. Und sie unterschiedet sich von wissenschaaftlichen Erkenntnis darin, dass sie (noch) keine Gewissheit hat, die sich beweisen lässt, sondern sie in der Ergründung innerer Zusammenhänge sich bewegt, die sich der Anschauung oder der unmittelbaren Wahrnehmung noch entziehen (siehe Grund) und in dieser also auch nicht erwiesen sind. Von der Moral unterscheidet sich Theorie darin, dass sie nicht wertet, die Wahrheit ihrer Aussagen nicht einfach behauptet, sondern Zusammenhänge sucht, ent-deckt oder er-öffnet oder sich auch selbst verwerfen muss, wenn sie ihren Beweis schuldig bleibt.

Natürlich setzt dies Praxis, menschliche Subjektivität voraus, aber eine solche, die sich von der Objektivität unterscheidet und sich hierzu in einen bestimmten Unterschied von Inhalt und Form des Lebens begreift (Formbestimmung). Theorie setzt also auch die Selbstunterscheidung des Menschen in der Welt und von der Welt voraus. Sie enthält so die Notwendigkeit einer Selbstverständigung (Philosophie) und ist in diesem Sinne implizit immer kritisch. Der Pulsschlag der Natur bedarf keiner Theorie; was sich von selbst versteht ist selbstverständlich und bedarf keiner Selbstverständigung.

Alle Theorie bleibt aber reine Interpretation, wenn sie sich nicht aus der Entfremdung des Menschen von seinem Leben begreift, sich also in der Notwendigkeit einer Selbstgewissheit vesteht. Sie hat notwendig die abstrakte Vermittlung menschlichen Lebens als Logik der Lebensverhältnisse zu ihrem Gegenstand und Begriff, um ein Bewusstsein dieser Entfremdung zu schaffen und dem Entschluss der Menschen zur Ergreifung ihres Lebens zur Tat zu verhelfen (siehe hierzu Theoriebildung).

Die einer Theorie zugrunde liegende Logik vollzieht die Begriffssubstanz, die ihr zugrunde gelegt ist. Sie wird aus der Analyse ihres Gegenstands notwendig so entwickelt, wie sie mit den empirischen wie philosophischen Grundlagen der wissenschaftlichen Erkenntnis begreifbar geworden war (siehe Begriff). Sie macht die Konstinenz der Theorie aus, also die Lückenlosigkeit ihrer Beweisführung, letztlich die Gewissheit der daraus erschlossenen wissenschaftlichen Aussagen.

"Nicht nur im Denken, sondern mit allen Sinnen wird daher der Mensch in der gegenständlichen Welt bejaht." (MEW 40, S. 241f.)

Eine Theorie der Praxis ist für sich genauso unsinnig, wie die Praxis einer Theorie. Für sich ist solche Theorie nur Interpretation, vielleicht vorgestellter Gedanke, vielleicht Fantasie, jedenfalls ohne Wahrheit. Im Leben der Menschen selbst muss der Gedanke seine Wahrheit in dessen Wirklichkeit finden. Gedanke und Wirklichkeit müssen einander nötig haben, um wahr zu werden, das praktische Bedürfnis mit dem theoretischen Bedürfnis eins sein. In dieser Einheit erst ist Täuschung unmöglich und Interpretation überwunden (siehe hierzu Theoriebildung). Theorie kann sich nur verwirklichen, wenn sie radikal ist, wenn sie das Menschsein an seiner Wurzel, an seinem Lebensverhältnis selbst fasst.

Darin erfüllt sich die 2. Feuerbachthese von Karl Marx:

"Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, d. h. die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis isoliert, ist eine rein scholastische Frage." (MEW 3, Seite 533 ff.)