Medizin
"Warum wird der Mensch erst dem Arzte unterworfen, wenn er erkrankt, und nicht, wenn er gesund ist? Weil nicht nur die Krankheit, weil schon der Arzt ein Übel ist. Durch eine ärztliche Kuratel wäre das Leben als ein Übel und der menschliche Leib als Objekt der Behandlung für Medizinalkollegien anerkannt. Ist der Tod nicht wünschenswerter als ein Leben, das bloße Präventivmaßregel gegen den Tod? Gehört freie Bewegung nicht auch zum Leben? Was ist jede Krankheit als in seiner Freiheit gehemmtes Leben?" (MEW 1, S. 59)
NatÜrlich sucht jeder Mensch, wenn er erkrankt ist und durch sich keine Heilung mehr erwarten kann, die Hilfe von Menschen mit diesbezÜglicher Erfahrung, meist Mediziner. Und es sollte in jeder Gesellschaft selbstverständlich sein, dass es diese auch gibt, dass sie ausgebildet und durch Erfahrung routiniert zur VerfÜgung stehen. Von daher unterziehen sich Menschen ihrer Hilfeleistung, weil sie ohne diese nur beschwerlich oder garnicht leben können. Ihr jeweiliges Leiden bleibt hierbei das Maß und der Weg ihrer Gesundung und ihr Zweck kann die Mittel nicht heiligen, schon gar nicht dem Recht geben, der sie anbietet. "Wer heilt hat recht" ist der reaktionäre Spruch der Mediziner, die von sich behaupten, dass sie Heiler wären, dass sie eine Krankheit geheilt hätten, weil sie ihre Symptome bewältiggen - oder auch Überwältigen - konnten. Der kranke Mensch wird damit von der Heilung dispensiert obwohl es sein Leben, sein Körper und sein Geist ist, der die Heilung betrieben hat - auch wenn ihm hierfÜr einige Mittel und Erfahrungen zuteil geworden waren. Er wird zum Objekt einer Rechtsprechung, die sich durch nichts anderes rechtfertigt, als durch ein instrumentelles Verhalten mit dem entsprechenden Instrumentarium, das Krankheitssymtome ausschalten kann, das einfach funktiioniert, weil es unter bestimmten Umständen funktional ist (siehe auch Psychopharmaka).
Wenn die Medizin selbst zum Maßstab der Gesundheit wird, wenn krank gewordenes Leben hiergegen nur "als ein Übel und der menschliche Leib als Objekt der Behandlung fÜr Medizinalkollegien anerkannt" (MEW 1, S. 59) ist.,so wird sie leicht von Technoraten beherrscht. Und wenn der Arzt oder die gesamte medizinische Industrie unentwegt in Gang gesetzt und gehalten wird, um die Menschen nach Maßgabe ihrer Lebens- und Gesundheitsvorstellungen von "Schaden an Leib und Leben" fern zu halten, so halten sie diese vor allem von ihrem Leben fern. Es wäre die Perpetuation eines unmöglichen Lebens. Das meint Marx mit der ZufÜgung:
"Ein perpetuierlicher Arzt wäre eine Krankheit, an der man nicht einmal die Aussicht hätte, zu sterben, sondern zu leben. Mag das Leben sterben: der Tod darf nicht leben." (MEW 1, S. 59)
Die Krankheit der Medizin ist, dass sie sich im Großen und Ganzen als Lehre von einer Gesunderhaltung des Lebens versteht, die die Störungn des erkrankten Menschen vom Standpunkt der Überwindung seiner Gebrechen durch ihre Mittel und Werkzeuge Überwindet. Sie steht ihm ja auch mit Rat und Tat bei, um aus dem Nutzen einiger Mittel und Prothesen Leben zu beziehen und auch zu verlängern, das sich der GÜte des Ersatzes seiner Ohnmacht verdankt und ihr dementsprechend fÜr die prothetischen Beziehungen dankbar ist, die sie ermöglicht hat. Darin wird Gesellschaft selbst wie eine Paliativstation behandelt und findet sich ohne Umstand in die Grundlagen des Kapitalismus ein, wonach die Menschen dazu da sind ihr Leben zu verdienen, um Geld als ihr abstraktes Lebensmittel zu vergesellschaften.
"Überall versuchend, zu helfen und zu heilen, selbst dort, wo nichts mehr zu heilen ist, verloren die Ärzte das hohe GefÜhl fÜr die Bedeutung ihres Berufes ... [Die] Verdoppelung der Volkszahl der Gesunden ist binnen 25 Jahren unter der Voraussetzung möglich, daß der gesunde Volkskern von den kranken, belastenden Elementen befreit wird. Der Vernichtung der Ballastexistenzen stehen heutzutage keinerlei technische Schwierigkeiten, aber immer noch moralische entgegen.Es ist zwar dem Arzte gestattet, jegliche Operationen am Einzelmenschen vorzunehmen, doch wird er durch Gesetzgebung verhindert, chronische Seuchenherde im Volke durch Vernichtung der Seuchenträger zu zerstören und durch Vernichtung der minderwertigen Überwucherung der gesunden Volksbestandteile zu beseitigen. Solche chirurgischen Eingriffe in das Volksganze sind dringende Forderungen der Zeit. Wir dÜrfen die Vernichtung lebensunwerten Lebens nicht der nächsten Generation zuschieben ." (Ernst Mann: "Vom Eliteheer zum Schwertadel" Über die Aufgaben des Arztes im "Dritten Reich" zitiert nach Julius Moses: "Der Kampf gegen das "Dritte Reich" - ein Kampf fÜr die Volksgesundheit!")
Obwohl Medizin immer nur der Versuch sein soll, Leben zu erhalten und zu retten, das desolat geworden ist, impliziert sie den Anspruch eines selbständigen Mittels zur Erzeugung von Gesundheit im allgemeinen Sinn, also der Vermittlung eines heilen, eines ganzen Lebens und hat von daher auch einen gewichtigen Anteil am Gesundheitsverständnis unserer Kultur, ganz gleich, was deren WidersprÜche sein mögen.
Medizin geht nicht von einem gehemmten, behinderten oder verhinderten Leben aus, wodurch sie Behinderung vor allem auch jenseits seiner isolierten Körperform zu begreifen hätte. Ihr allgemeines Maß vollstreckt eine Vorstellung dessen, was als gesund zu gelten hat und beizuscfhaffen, was nicht nur Heilung ermöglicht, sondern auch heil macht, Vollkommenheit durch entsprechende Mittel erzeugbar darstellt. Es ist die Vorstellung von einem an und fÜr sich gesunden Leben in einer Welt, die durch Krankheit und Krisen lediglich peripher an ihrem eigentlichen Sein behindert oder darin beschädigt wird, Beschädigung ihr also von außen zugefÜgt wird. In diesem Sinn begreift Medizin Krankheit als gescheiterte Gesundheit und verfolgt das Interesse an einer LebenstÜchtigkeit an sich, einer LebenstÜchtigkeit, die gleichgÜltig gegen die Lebensbedingungen möglich und auch herstellbar ist: Die Produktion von Gesundheit, was immer auch das Leben bedingen mag und mit Mitteln, die einem ihm äußerlichen Zweck ihrer Gesundheitsideologie nutzen.
Leben selbst besteht daher nach dieser Auffasssung aus intakten Funktionsabläufen, die in der Krankheit nur ausfallen, Krankheit also nicht wirklich gegen das Leben geht. Nicht WidersprÜche des Lebensprozesses und der Lebensverhältnisse als solche, das an sich selbst scheiternde Leben macht Krankheit, sondern eine Unvollständigkeit, welche durch eine vollständige Medizin herstellbar zu sein scheint. Die medizinische Interpretation des Lebens bleibt damit eine Naturvorstellung des Lebens, die einer Kritik am Lebenszusammenhang der Menschen zu entgehen sucht. Ohne diese aber treibt sich durch Medizin eine Perfektionierung der Gesundheitsvorstellung fort und intensiviert so den Trieb einer Gesundheitsproduktion bis hin in jedes gesellschaftliche Detail, das dieser gegenÜber unangemessen erscheint. Die Probleme der Selbsterhaltung der Menschen unter der Zeitbedingung von Verwertungszwängen gelten als selbstverständliche Voraussetzung, der sie durch die bloße Wiederherstellung im Falle einer evident gewordenen Störung entgegen zu treten versucht. Von daher hat Medizin eine schlichte gesellschaftliche Funktion. Ihr Ziel und Betreiben ist die Regeneration der Menschen, welche fÜr sie gleichbedeutend ist wie die "Gesunderhaltung", die Reproduktion ihres Lebens in einer Gesellschaft, in welcher die Menschen im Allgemeinen Überhaupt nur Über ihre Reproduktion beteiligt sind. Der Arzt will das in der Krankheit gebrochene Leben heilen, es wieder ganz machen, und damit die Ideologie bedienen, dass es als solches auch immer "wiederherstellbar" ist. Umgekehrt erscheint das Unwiederherstellbare tendenziell als unsozialisierbar, also als eine Art Verweigerung vor einem gesunden Leben (siehe hierzu auch Psychiatrie).
Gesundheit ist ein Ideal, das aus der Krankheit entstanden war, wo sie nicht von selbst wieder ins Leben findet, wo Leben in der Hemmung lebt und nicht so natürlich sein kann, dass es an einem Ideal der Gesundheit überhaupt bemessen werden muss. Ein perpetuierlicher Arzt ist ein Gesundheitsberater und Gesundmacher, der sich gegen die Krankheit als Kämpfer verhält, als Lebensbeistand, der die Ideale kennt und vermittelt. Und natürlich ist das nur möglich, weil es Krankeit gibt und jeder Mensch auch immer wieder mal krank wird und den Belastungen seiner Lebenswelt erliegt - eben weil es Krankheit als Beschädigung seiner gesellschaftlichen Funktionalität auch gibt. Und je mächtiger die Lebensnotwendigkeiterscheinen, je belasteter die Menschen in diesen Funktionen sind, desto zentraler wird das Lebensideal der Gesundheit des Lebens. Je weniger es also seine Natur in seiner Freiheit äußern kann, desto mehr wird Gesundheit zu seiner Natur idealisiert, zur Gesundheitsideologie.
In ihrer Wirklichkeit ist Medizin eine Institution der Schadensbegrenzung einer Gesellschaft, welche die Menschen nicht in dem Maß und Grund leben lassen kann, in dem sich ihr Leben äußert. Sie ist der allzeit gegenwärtige "perpetuierliche Arzt", der immer zur Stelle ist, wo sich Nichtungsprozesse des Lebens auftun, um diese zurückzudrängen, und der sein Recht daraus bezieht, dass er möglichst jeden gesundheitlichen Schaden an Ort und Stelle seines Auftretens bewältigt, indem er ihn aus seinem wirklichen und kulturellen Lebenszusammenhang isoliert. "Wer heilt hat recht!" ist das geflügelte Machtwort einer solchen Institution. Heilung wird hierdurch zu einem Recht des Heils, zur Macht einer Gesundheitsvorstellung, die an einem Kranken auf irgendeine Art und Weise - also unbegrÜndet - "verifiziert" wurde.
Medizin will als Wissenschaft ein Beitrag für ein gesundes Leben sein, das unbeschadet der Widersprüche seines Daseins herstellbar gilt, soweit das funktional und genetisch möglich ist. Damit impliziert ist auch das umgekehrte Bestreben, eine Lebensperfektion als Maßstab eigener Vervollkommnung für sich geltend zu machen und das eigene Leben im Maß medizinischer Gesundheitsvorstellung einzurichten. Medizin wird dabei zum Mittel und Maß einer negativen Lebensperspektive, an der alles positiv bestimmt erscheint, was Leiden abschirmt und Leidenschaft relativiert, Leben also im Grunde selbst auch behindert und gefährdet.
Der Medizin geht es daher nicht um die Bruchstellen des Lebens selbst, sondern vor allem um das ungebrochene Ganze, um das Heile, das sie dem Gebrochenen gegenüberstellt, es daran bemisst und wonach der Heilungsprozess streben soll. Wiewohl sie an der Seite des Kranken steht, interessiert sie vor allem nur die Aufhebung des Krankenstands, nicht die Beziehung des Kranken auf sein gesellschaftliches Sein in welchem sie gleichermaßen eingebunden wäre. Krankheit wird lediglich als ein bestimmtes Lebensereignis unter bestimmten Lebensumständen begriffen und von daher wird auch ihre Gesundung nicht als ein Prozess inmitten einer bestimmten gesellschaftlichen Wirklichkeit, also auch nicht in gesellschaftlichen Krisen aufgefasst. Medizin versteht sich aus diesem herausgenommen als besondere Verabreichung von Ersatz- oder Ergänzungsstoffen für den geschundenen Körper und die verzweifelte Seele. Ihr geht es um das Heile im Unheil, eben um die Gesundheit als Inbegriff des Ziels ihrer Tätigkeit, um eine Gesundheit, die sich nicht nach einer Krankheit in einem entsprechenden Lebensprozess einstellt, sondern die erzeugt werden muss durch (meist chemische, chirurgische oder radiologische) Mittel. Medizin ist eine weitreichende Hilfreichung, die sich meist auf den Körper für sich bezieht und durch seine Heilung die Not eines geschundenen Leben wendet, ohne sich auf die Schindung von Leben zu beziehen. Ihr selbstverständliches Prinzip ist das Überleben, das gleichgültig gegen das wirkliche Leben ist.
Das kommt nicht von ungefähr, weist doch diese Kultur viele Absonderlichkeiten auf, die in ärmeren Ländern fast nicht vorkommen und die sich weniger in der menschlichen Wirklichkeit ereignen, als vielmehr im Körper der Menschen selbst: Diese leiden in den reichen Ländern des Westens im allgemeinen an Bewegungsarmut, an Bluthochdruck und anderen Stressfolgen (Nervosität, Kopfschmerzen, Migräne usw.), an einem hohen Allergie- und Krebsrisiko, an überschüssiger Zucker- und Fetternährung, an psychischen Störungen, Süchten und es gbt hierzulande viele Hormon- und Stoffwechselstörungen (z.B. Gicht, Zucker). Das Wohlstandssiechtum einer hochentwickelten Verwertungskultur hat so seine Eigenheiten. Aber die Medizin kümmert sich dessen unbeschadet - zusammen mit einer ganzen Pharmakologie, Gesundheits- und Freizeitindustrie - weniger um Kulturprobleme, dafür aber sehr stark um die Regeneration, um die Arterhaltung des Körpers als solchen. Ihm scheinen unter den herrschenden Lebensbedingungen wesentliche Grundlagen seiner Arterhaltung zu fehlen. Er ist sich selbst ungewiss geworden und diffus untüchtig, ohne Identität, kurz: Ungesund. Das verlangt einen ganzen Katalog von Anforderungen an die körperliche Tüchtigkeit, die sich nicht mehr aus Arbeits- und anderen Bewegungsabläufen ergeben, sondern aus der deutlich meßbaren Minderfunktion biologischer und physiologischer Abläufe. Für sich genommen wird der körperliche Prozess zu einer eigenständigen Tatsache des minder Funktionalen, nicht in lebendiger, also vielseitiger, geistiger, gesellschaftlicher, Beziehung - und auch nicht als ein Leiden, das vielleicht auch nur einer Prothese bedarf, um es dem Menschen zu ermöglichen, sich selbst wieder herzustellen, es der Intelligenz seiner Natur zu überlassen, sich aus ihm heraus weiter zu entwickeln.
Zur Behandlung minderer Funktionalität kann die Medizin gut beitragen, weil sie sich mit dem Körper in seiner selbständigen Form auskennt - und auch damit, was man für ihn Gutes tun kann, was man an Mittel und Stimuli beibringen kann, um ihn rein körperlich wieder in seine ihm eigentümliche und notwendige Bewegung zu versetzen oder diese sogar noch zu verbessern und ihn auf dem rechten Weg, in der richtigen Bewegung zu erhalten.
Daher geht es ihr erst mal darum, zu wissen, was ihm schaden könnte, was also als rein körperliche Ursache unwohler Befindlichkeit gelten kann. Die Idee einer allgemeinen Gesundheit treibt zu Alternativen, vor allem zu allen möglichen Variationen von Sport und Bewegung und Ernährung unter der Bestimmung besonderer Gesunderhaltung, der Erhaltung dessen, was allgemein unter Gesundheit vorgestellt und im Besonderen zugetragen wird. Das Ungesunde wird zum Gegner des Gesundheitshelfers, nicht weil es ihm um den Körper ginge, sondern weil er damit einer gesund scheinenden Kultur dienlich ist und diese restauriert, wo sie ihre Wunden zeigt. Deren Heilung erscheint durch rein körperliches Wohlergehen erreichbar, durch eine heile Weltkörperlicher Funktionalität und Kraft. Nötig ist hierzu vor allem Aufklärung über die Schädlichkeiten des Lebens.
Und wie jeder anständige Aufklärer, der genau und objektiv sein will, trennt Medizin Geist und Körper (siehe Leib-Seele-Problem) auf und entzieht dem Menschen in dieser Getrenntheit (siehe Abstraktion) die Zusammenhänge seiner Lebenswidersprüche, um festzustellen was ihm fehlt und was ihn weiterbringt, um also Mangelfunktion durch Mangelersatz aufzuheben. Dass Medizin Prothesen zur Verfügung stelt, ist ihr nicht vorzuwerfen; das muss sie objektiv tun, weil das Leben objektiv auch nur funktional existiert. Indem sie zugleich aber versucht, dem Leben dazu zu verhelfen, einen tüchtigen Körper erhalten zu können, weil es den auch nötig hat, bestimmt sie sich als Institution einer Perfektionierung, die über das wirkliche Leben hinausgeht. Und diese Ertüchtigung ist sublim, fast unmerklich durch die vielen körperliche Stützen, Blockaden oder Stachel, die den kranken Menschen nicht nur behiölflich sind, sondern ihn zugleich wieder "in die Bahn werfen" sollen, aus der er herausgefallen ist. Die rechte Bahn besteht dann aus Normen körperlicher Funktionswerte, die einer rein medizinisch begründeten Normativität entstammen, und auf dem Boden einer derart begründeten medizinischen Moral arbeitet Medizin "schlechten Werten" einfach nur entgegen. In der Abtrennung von seinem Leben führt dies den Körper in das Reich des Körpers, dem Stoff als Organ gegen seinen Mangel, den er zu akzeptieren lernt, um sich an ihm nicht zu stoßen - oft so sehr, dass er von den Heilmitteln nicht mehr wegkommt. Die Medizin ist hierbei durchaus umsichtig und kennt die Probleme des Stofflichen. Sicher ist ja, dass jeder Mensch zwar einen Körper hat - aber auch, dass er deshalb dennoch nicht nur Körper ist. Das "Andere" muss sich dann eben selbst finden, ist sowas wie Privatsache, Überzeugung, Lebensanschauung usw. Der Körper wird auf diese Weise umgekehrt zu einem sehr gesellschaftlichen Gegenstand, zur Sache einer Gesundheitskultur.
Aber praktisch hat dann auch die Medizin nicht nur mit Körper, sondern mit dem ganzen Leben von Menschen zu tun, - das zeigen ihre Disziplinen und ihre übergreifende Behandlungseinrichtungen, welche ihr über die Desolation ihrer einzelnen Fachgebiete hinweghelfen. Tag für Tag steht sie vor Lebensbrüchen und urteilt über das ganze Leben vieler Menschen und relativiert und befördert es, wie es ihrem Urteilsvermögen gerade zukommt. In der Praxis behandelt sie Krankheiten, die als Störungen des gesunden Lebensverlaufs aufgefasst werden; d.h. sie spürt Störungen auf, die sie per Diagnostik totalisiert, um sie als solche dann auch zu behandeln, sie also zu modifizieren oder aufzuheben oder zu bekämpfen. Der Kranke ist hierbei in der Rolle des Patienten, des Geduldigen, als passives Objekt medizinischer Behandlung, die an ihm Ergebnisse zu erzielen versucht, die aus dem Wissen der Medizin mit den daraus abgeleiteten Manipulationen seines Körpers erwartet werden. Um ihren Erfolg zu messen und ihre Urteile (Diagnosen) zu bestätigen, ihre Wahrheit als Selbstgewissheit zu beschließen, hat sie subjektive Kriterien, die Befindlichkeit ihrer Patienten, und objektive, nämlich die Messwerte dessen,was als gesund gilt und sich als analytische, meist biochemische Daten aus dem Blut, dem Urin, dem Stuhl ergeben oder aus akustischen oder elektronischen oder manuellen Abtastungen gewonnen werden. Die Beziehung der Messwerte und ihre Ausdeutung beruht auf reiner Naturwissenschaft.
Die subjektiven Befindlichkeiten lassen sich aus Selbstwahrnehmungen ermitteln, die der Patient vorträgt, so weit er das kann. Die "objektiven Daten" werden auf statistische Durschnittswerte bezogen und unterstellen eine durchschnittliche Gesundheit, die sich statistisch formulieren lässt. Am Gegenstand der Medizin, dem Leben, soll sich also Gesundheit durch Messwerte definieren lassen, und bestimmt Krankheit also zur reine Störung derselben, deren Faktoren sich benennen und bekämpfen lassen. Vor allem dies führt zu dem Schluss, dass Gesundheit durch gesundes Leben zu erreichen ist und demzufolge das große Augenmerkt auf eine gesunde Lebensführung zu richten sei. Inzwischen trägt Medizin mit einem gewaltigen Anteil zu solchem Lebensverständnis der Westkulturen bei, das inzwischen eine lukrative Gesundheitsindustrie ausgebreitet hat.
Gesundheit für sich wird damit etwas anderes als eine Befindlichkeit. Sie wird zu einem Ideal aufgeklärter Lebensinteressen, zu einem kategorischen Imperativ des Körpers: Lebe so, dass alles, was du tust der Gesundheit dient. Damit wird Gesundheit zum Maßstab der Lebenserfüllung, als das höchste zu erstrebende Glück angesehen, das alleine durch Lebensführung, also durch Selbstbeherrschung, in einem subjektiven Herrschaftsverhältnis zu erzielen sei. Natürlich ist es vom Standpunkt der Krankheit richtig, alles zu tun, um gesund zu werden; aber hier wird der Standpunkt umgekehrt: Gesundheit ist unentwegtes Lebensziel und also muss alles getan werden, um nicht in eine potentiell immer mögliche Krankheit zu verfallen. Für das Leben insgesamt ist dies ein Zirkelschluss, wie er dem Idealismus zu eigen ist: Es dient im Prinzip der Verhinderung des Todes. Gesundheit steht somit in der Negation eines wirklichen Seins, wird zu einem Ideal, das durch das Leben erst substanzialisiert wird und somit auf die Feststellung reduziert "Wer gesund lebt, der ist gesund".
Umgekehrt wird Krankheit damit zu einem dem Ideal entgegengesetztem Leben, zu einem Leben, das es nicht versteht, gesund zu leben. Für sie kann es nur bedeuten, Heilung durch ein heiles Leben zu erzielen, also eine heile Welt zu finden, in der sich gesund Leben lässt und dazu beizutragen, dass die Welt heil werde. Das geht vor allem in den Schichten und Klassen, die ihr Leben als Verwirklichung solcher Idee betreiben können - und dort hat sich bereits längst eine Kultur der Regeneration ausgebreitet, in welcher Gesundheit fraglos definiert ist: Fitnes in allen Lebenslagen. Sie ist zum wesentlichen Merkmal der flexiblen Persönlichkeitgeworden: Gesundheit ist Lebensbewältigung und oft auch Lebensüberwältigung durch Fitnes. Krankheit ist dessen Beleidigung. Wiewohl solches Glücksverständnis eigentlich aus dem Standpunkt der Krankheit enstanden ist, ist es zugleich deren vollständige Entwertung. Sie wird vielleicht theoretisch von fortschrittlichen Leuten durchaus als Lebensausdruck noch mitreflektiert, praktisch aber wird sie lebensunwert, wie immer man das auch nennen mag. Mit ihr kann man nach medizinischem Verständnis nicht wirklich leben. Und damit gilt die Wirklichkeit in jedem Fall als gesund.
Medizin kann schon von ihrem Ansatz her im Grunde nichts anderes über Gesundheit sagen, als das, was sie im Gegensatz zur Krankheit für gesund hält, für etwas hält, das nicht krank ist und nicht krank macht. Das ist reichlich willkürlich. Solche Dafürhaltung macht sich an dem fest, was unter Krankheit verstanden wird und was als Grund für eine Krankheit angesehen wird. Es können dies Stoffe sein, die krank machen, oder fremde Kräfte als fremde Naturgewalten (z.B. Viren) oder ungute Abläufe (z.B. ungesunde Lebenshaltung oder schlechte Arbeitshaltung) oder das funktionelle Versagen als solches (z.B. sogenannte Alterskrankheiten) usw.
Von da her stellt Medizin die Grundbefindlichkeiten des gesunden Menschen als Norm von durchschnittlichen Werten zusammen (siehe Normalität), von Blutdruck, Blutfette, Zucker, Leberfunktion usw., und relativiert diese am Durchschnitt der Werte einer bestimmten Bevölkerung in einer bestimmten Kultur - ansonsten würde sie zu keinem überhaupt praktikablen Ergebnis kommen, ist doch schon der Blutdruck sehr kulturabhängig (zwischen dem deutschen Durchschnitt und dem der Inder oder der Kreter klaffen Welten), wie auch die Fettwerte des Bluts, die Leberwerte (in China völlig anders) usw. Auch die Verteilung der Krankheiten gibt Rätsel auf, welche die Medizin mit einem kulturspezifischen Krankheitsbegriff umgegehen muss (z.B. kommt der Herzinfarkt prozentual zur Bevölkerung um ein Vielfaches häufiger in Finnland vor, als auf Kreta). Und selbst in der Geschichte einer Kultur treten mit entsprechenden Änderungen der Lebensbedingungen eklatante Veränderung im Grundbefinden der Menschen auf. So haben z.B. die Nordamerikaner im Zeitverlauf der Globalisierung seit 1985 ein Viertel an durchschnittlichem Körpergewicht zugenommen. Im Bezug auf solche Veränderungen und Relativitäten im praktischen Lebensprozess der Menschen ist die Medizin sehr tolerant und nimmt sie als selbstverständliche "Schwankungen" hin. Nur bei der Beziehung auf Gesundheit, da ist sie bemerkenswert einseitig. Da nämlich hat sie nur den individualisierten Menschen und dessen Schlechtbefinden und Wohlergehen vor Augen und versteht sich vor allem regenerativ; da passt sie gut in die Welt einer Dienstleistungsgesellschaft. Die Kulturabhängigkeit der Gesundheitsmaßstäbe und die absolute Beziehung auf Befindlichkeiten des Menschen stehen in einem krassen Gegensatz, der - wie bei allen Aufklärern - durch Vernunft verschmolzen wird. Der Kategorische Imperativ der Medizin steckt in der Forderung, im einzelnen so zu leben, dass alle Organe im Gleichgewicht ihrer normalen Werte funktionieren.
Die derzeit allgemein angewandte Medizin geht demzufolge von einer Rationalität der Krankheit aus, die sich aus der Funktionalität der Natur ergibt und in der diese normativ begriffen wird als Gegebenheit einer gewöhnlichen Funktionsfolge. Gesundheit sei demnach gewährleistet durch eine "gesunde Lebenshaltung", welche das Naturmaß beherrscht. Es besteht aus einer durchnittlichen Menge an Naturstoff (Vitamine, Fette, Kohlenhydrate usw.), also durch ein stoffliches Quantum, das den Meßwerten entspricht, die dem durchschnittlichen Funktionieren der Organe und des Organismus als "natürliche Grundlage" seines Stoffwechsels zugeordnet wird. Also gilt als Ursache der Krankheit die Abweichung von diesen Werten.
Schon einfache Kulturvergleiche beweisen, das dies nicht richtig sein kann: So gelten z.B. hohe Blutfettwerte (Cholesterinspiegel) für sich schon als Ursache der wichtigsten Zivilisationskrankheit, der Arterienverkalkung und ihrer Folgen (Herzinfarkt, Schlaganfall). Dadurch, dass zu viel und zu fett, "zu gut" gegessen würde, wären solche Erkrankungen die Folge. Die Anwesenheit von zu viel Fett in der Nahrung sei schon Grund genug, dass der Körper auch dieses Fett aufnehme und an falscher Stelle ablagere. Dagegen ist bekannt, dass in den Kulturen, wo diese Krankheiten nicht entstehen, weit größere Fettmengen eingenommen werden, wie hier (z.B. trinken Beduinen durchschnittlich ca. 10 l Kamelmilch pro Tag und nehmen viel Tierfett auf, ohne dass sie später an Gefäßverkalkung leiden). Außerdem ist der Genuß dieser Fette schon Jahrtausende alt und hat erst im letzten Jahrhundert begonnen, Verkalkung hervorzurufen. Autoren, die von der Schulmedizin verpönt sind, weisen darauf hin, dass nicht die Menge, sondern der Suchtcharakter der Ernährung der Grund einer Störung des Fettstoffwechsels sei, die Saccharidose, die Überfütterung mit Zucker im Unverhältnis seines natürlichen Vorkommens (z.B. entspricht die durchschnittliche Tagesration von 150 g Zucker bei der deutschen Bevölkerung der Nahrungsaufnahme von 1,1 kg Zuckerrübe, die niemand freiwillig aufnehmen würde, wenn sie nicht als industrielles Konzentrat angeboten würde).
Überhaupt wird in der Medizin zwischen Anlass, Ursache und Grund nicht genau unterschieden. Schon die Diagnostik weist meist nur Phänomenbeschreibungen auf: Kreislauferkrankungen, Blutdruckstörungen, Insuffizienzen, Infektionen, Schizophrenie, Depressionen usw. Die Beschreibung selbst, die eigentlich nur Abweichung vom Gewöhnlichern erfasst, wird im Begriff selbst zu etwas Wesentlichem, zu einer scheinbaren Erkärung: Schizophren ist, wer in seiner Identität gespalten ist, Depressiv ist, wer sich von seinen Gefühlen erdrücken lässt, infiziert ist, wer einen Infekt hat, wer also von einem Bakterium oder einem Virus "befallen" wurde. Mit dieser nominalistischen Tautologie ist nichts anderes gesagt, als was man vorfindet: Fremdwesen erzeugen Krankheitssymptome. Nicht erklärt ist, was Wissenschaft eigentlich im Wesentlichen klären sollte, warum der eine Mensch davon krank wird, der andere nicht. So gerät die Erscheinung selbst zum Wesen, ein hoher oder niederer Blutdruck wird zur "Blutdruckstörung", ein hoher Blutfettgehalt zur Gefäßverkalkung usw. Insgesamt wird das Störende bekämpft, damit die Krankheit als Störung überwunden wird, als Störung enerkannt ist und als Störung die Unversehrtheit und Unbenommenheit der Lebensumstände, der allgemeinen Ernährung, Arbeit und der sozialen Beziehungen belassen bleibt. Es ist im Grunde reaktionär, was Medizin hiernach betreibt: Die Ausrottung eines Störenfrieds, der aufzeigt, dass etwas Wesentliches an den Lebensverhältnissen nicht stimmt. Dabei wird die Normierung zum Prinzip des Ungestörten, das sowohl jede Ursachenforschung unnötig macht und die Therapie zu einem Marathon der Normvermittlung werden lässt. Das Abweichende wird krank, auch wenn es keine wirklichen Krankheitssymptome hevorruft (vergl. z.B. die völlig beliebigen Blutdruckdefinitionen) und das Normale wird gesund, auch wenn es aus zerstörter Natur (siehe Genmanipulation), Konsumsucht, Leistungszwang (siehe Lohnarbeit) und Gewalt (z.B. Krieg) besteht.
Indem Störenfriede ausgerottet werden, werden Gründe für die Störungen und Konflikte vedeckt. In der Medizin würde sich sonst sehr schnell die Trennung von Tätigkeit und Leiden der Menschen unter bürgerlichen Lebensbedingungen zeigen lassen, weil sie als Grundlage aller Kulturschmerzen auch in die Krankheit eingeht, als die Unvermitteltheit und Fremdvermittlung von Lebensaktivität und Lebenserfahrung, von Subjektivität und objektiven Gewalten, von Ausdrücklichkeit des Lebens und der Beeindruckung des Einzelwesens durch die Kulturgewalten. Die "Krankheitsgeschichte" würde so zu einer Geschichte der Ausbruchversuche, der Fluchten und Bindungen, der Notwendigkeiten, die Überlebensgröße haben. Das Siechtum des Lebens zeigt sich hier als Fremdwahrnehmung, als Sucht im Anderssein, als Aufreizung der Selbstwahrnehmung, die krank macht, die also das bedrängte Leben nicht nur bewahrt, sondern zudem kränkt, also seine Selbsterkenntnis bestreitet und überwältigt.
Besonders die neuere Statistik belegt, dass eine Art Sucht, die Einverleibung übermäßig konzentrierter Reiz- und Dämpfungsstoffe (Zucker, Fette, Alkohol, Nikotin, Fernseh-Snaks usw.) sich beständig zunehmend als Grundlage der modernen Ernährungskrankheiten, aber auch als Grund für Tumore und Infarkte nachweisen lässt. In der Entwicklungszeit seit Beginn der Globalisierung (etwa seit 1985) hat sich dies enorm gesteigert (Entwicklung der Fettsucht und Magersucht hat sowohl in den USA wie auch in Europa rasant zugenommen, sich mehr als vervierfacht vergl. Studie von Dr. Hildebrandt u.a.). Die Stoffwechselkrankheiten und deren Folgen, die Gefäßkrankheiten, Kreislaufstörungen, Herzkrankheiten und infarkte machen heute den weitaus größten Anteil aller Todesursachen aus und nehmen kontinuierlich zu. Der Konsum ablenkender und sedierende Kultureignisse stimmt hierbei regelmäßig mit dem Konsum analoger Nährstoffe überein und ihre Analogie zu seelischen Problemen ist unübersehbar (vergl. z.B. die analoge Zunahme von Herzinfarkten und Deppressionen). Allein durch "gesunde Ernährnungsvorschriften" hat sich das nicht wesentlich geändert und wird sich auch nicht ändern, solange die Nährstoffabsurditäten abgehobener Konsumwelten die Widerwärtigkeiten sinnentleerter Arbeits- und Kulturwelten zu kompensieren haben. Aber dies kann Medizin nicht wissenschaftlich in ihr Wissen aufnehmen und diskutieren, weil sie dessen Basis in natürlich scheinender Stofflichkeit hat und darin auch bestätigt sein will.. Zwar nimmt sie psychologische Erklärungen durchaus hinzu, etwa als Symtomatik einer Somatisierung (Herzinfarkt als somatisierte Depression), aber als Fremdanleihe einer anderen Disziplin, die sich hier nicht verifizieren muss oder kann - als Ergänzungswissen aus der Psychologie, das als Wissen hier nicht mehr zur Disposition gestellt ist.
Gesellschaftlich verstanden ist das Einzelphänomen Krankheit lediglich die Gegenwärtigkeit einer Lebensgeschichte, in welcher die Tätigkeit, Ernährung und Gebundenheit des Lebens in einer bestimmten Kultur aufscheint und die Therapie ist die Praxis, mit der ein gesellschaftlich bestätigtes und also anerkanntes "Wissen" dies beantwortet. Es wäre auch von da her für diese Gesellschaft zwingend, an der Krankheit ihre "Probleme" zumindest zu erfassen. Ihr allgemeiner Stoffwechsel stünde zur Disposition, ihre Lebenshaushaltung (siehe Wirtschaft) und ihre soziale Lebensfeindlichkeit, die Zulieferung von Blendstoffen und Suchtmittel zur Erhaltung absurder Lebensverhältnisse, die sich vor den Menschen und ihren lebensnotwendigen Bedürfnissen nicht mehr rechtfertigen lassen. Stattdessen steht deren "Normalität" als Definitionsmacht ihrer "Gesundheit" an, entgegen welchem eben nur die einzelnen, die "schwachen" Menschen krank werden.
Eine normative Gesundheit gibt es aber auch schon deshalb nicht, weil es keine quantifizierte Rationalität gibt. Kranke Ernährung besteht ja auch nicht aus "kranken" Stoffquanten, sondern aus dem Grund der Einnahme von Suchtmittteln, die den Körper entwirklichen. Nicht weil seine Funktionalität belastet wird, entsteht eine Erkrankung, sondern weil seine Sinne entwirklicht werden, dissozieren sie sich in ihrer Bezogenheit zwischen Stoff und Kraft, zwischen Stoffwechsel und Lebensenergie. Der Stoff wird zum Surrogat der Kraft, die den Menschen entzogen wird; er macht süchtig nach mehr Stoff, um eine ihm unerreichbare Kraft sich zumindest dem Sinn nach einzuverleiben. Die Medizin setzt dies mit ihrem Angebot an Pharmakologie unvermindert fort und treibt es zur Versorgungsspitze:Für jedes Problem gibt es eine Pille. Indem sich der Stoffwechsel darin eigenständig macht, entzieht er sich seinem eigentlichen Sinn, nämlich Kraft zu verleihen und die Kräfte der Natur zu vermitteln: Energie zu binden und zu spenden. Durch die Verstofflichung der darin gebundenen Lebensnot wird Kraft und Energie entgegengesetzt und zu einer Selbstverzehrung getrieben. Krankheit als dies zu ent-decken würde sich in einer notwendigen Befragung und Hinterfragung der ganzen Kultur herausarbeiten müssen.
Dies zeigt sich auch interkulturell nötig. Im Gegensatz zur klassischen Schulmedizin des Abendlandes beschäftigt sich die chinesische Medizin im Land der aufgehenden Sonne vor allem mit dieser Energie: Was hierzulande als rein stoffliches "Problem" behandelt und mit Stoffen beseitigt wird, ist dort ein energetisches Problem der Körperströmungen. Dort hilft Besinnung auf den Regelfluß des Lebens und die Einbringung gezielter Dissonanzen (z.B. Akupunktur), hier hilft hauptsächlich der Heilstoff des Pharmakons, Brücken zu einem "gesunden Leben" zu bauen. Aber auch die Zusammenführung dieses Verständnisses mit dem der abendländischen Schulmedizin ändert nichts an den kulturellen Ursprüngen der Krankheit. Alleine die der Lebensablauf in den Wirtschaftsgewalten befördert natürlich den Zutrag an "Gesundheitsstoffen" (sprich: Pillen), und so wird in der Abtrennung als stoffliches Maß für Gesundheit Krankheit schlicht pervertiert: Die Überfütterung des Körpers, welche Krankheit erzeugt, wird zum Maßstab seiner Heilung. So muss Medizin schließlich mit Mengen hantieren, mit denen sie sowohl in der Ernährung, als auch in der therapeutischen Beigabe von konzentrierten Stoffen (Medikamente) als Gegenmenge haushaltet. Therapie wird so zu einem von seinen Grundlagen enthobener Stoffwechsel entwirklichter Sinnesorgane, die dadurch gesund gelten, dass sie keine Krankheit mehr zeigen können. Es ist die Fortsetzung ihrer Sucht mit anderen Mitteln - nicht mit Lebensmitteln, die als Drogen genutzt werden, sondern mit Drogen, die wirklich auch Drogen sind.
Medizin ist hierzulande also vor allem die Wissenschaft von der Krankheit als dem Abnormalen einer bestimmten Kultur, die mit abnormen Gegenmitteln beherrscht werden muss. Und so zweifelhaft die Anwendung solcher Wisssenschaft im Dafür- und Dagegenhalten von abnormaler Stoffvermittlung ist, so zwiespältig ist auch ihr Wissen. Weil Krankheit eine normative Bestimmung enthält, ist darin eine wirkliche Vermittlung in der Sache unmöglich. Daher besteht Medizin selbst schon als doppeltes "Wissen": Einmal als Wissen über das Leben, wie es sich ihr mitteilt, und zum anderen und hiervon getrennt als Wissen über das Ableben, wie sie es fürchtet. Medizin bewegt sich zwischen beidem als Entgegnung des Lebens auf das Wissen vom Tod und als Entgegenhaltung des Todes im Leben. In dieser Entgegnung kann sie nicht schlüssig sein. Sie ist sowohl Wissenschaft des verhinderten Sterbens, wie auch Wissenschaft des behinderten Lebens, beides aber in absoluter Gespaltenheit: Als Interesse an der Aufrechterhaltung des Stoffwechsels und als Kritik einer Lebensreduktion, welches beides aus der Krankheit hervorgeht. Aber Reduktion ergeht aus der Abstraktion vom wirklichen Leben, Aufrechterhaltung ist deren vollständige Affirmation. Eine Wissenschaft von der Krankheit kann sich von der Beengung ihres Ausgangspunkts nicht befreien, solange sie nicht den Krankheitsbegriff aufgibt, solange sie nicht mitten im wirklichen Leben sein Sterben, seine Natur und seine Abstraktion begreift (s.a. Realabstraktion). Medizin kann die Kluft zwischen Krankheit und Gesundheit nicht auflösen, ohne sich als Naturwissenschaft aufzuheben zur Wissenschaft der gesellschaftlichen Natur des Menschen. Sie enthält den Brennpunkt des sozialen Lebens der Menschen in den Körpern der Individuen, ist natürliche Kulturwissenschaft, die in der Kultivierung der Natur ebenso beschränkt ist, wie die Geisteswissenschaft in der Natur der Kultur sich nicht zu begreifen vermag.
Im Krankheitsbegriff der Medizin, der Gesundheit als Natürlichkeit des Lebens in seiner Geistlosigkeit impliziert, ist Krankheit unnötig, ein Unglück aus bestimmten Umständen und Anlässen, Fremdeinwirkung (z.B. Infektion). Krankheit tritt demnach nur als selbständige und einzelne Not auf und damit ist die Scheidung des Nötigen vom Lebendigen vollzogen und die Medizin dem Tod verfallen. Sie widersetzt sich ihm mit den Notwendigkeiten des Lebens, mit den Bedürfnissen des Stoffwechsels und entspricht ihm durch die Einvernahme des reinen Stoffes in Form von Chemie, Prothesen und Reizen. Dies mag im Notfall die einzige Überlebensmöglichkeit für das Individuum bieten, doch über diese hinaus muss der Tod die aparte Bedrohlichkeit schlechthin bleiben, schlichte Gewissheit des größtmöglichen Unglücks, welche das Leben erfahren kann.
Aber weil das Wissen des Todes selbst auch lebendig, wissendes Leben, Lebensenergie, ist, kann Medizin nicht nur dessen Behinderung sein, nicht einfach Heilung von Krankheiten, wie immer dies auch gelingen mag, sondern unmittelbarer Lebensausdruck, Sorge und Gewissheit um das Leben und seiner Bedrohung. Es steckt in der Medizin eine ungeheuere Lebensbejahung, wenn ihr die Einbeziehung des Todes in das Leben durch die Überwindung der Lebensnotdurft, die sich aus der Entzweiung von Stoff und Kraft und der darauf gründenden Sucht ergibt, durch die Kritik der Lebensformen gelingt (siehe Formbestimmung). Von da her treibt Medizin die Menschen potenziell zur Emanzipation aus den bloßen Naturschranken des Körpers, aus seiner Kränkung heraus, die darin besteht, dass die Individuen in der Endlichkeit ihrer einzelnen Existenz ihre gesellschaftliche Geschichte nicht erkennen können und daran zugrunde gehen. Letztlich ist Krankheit die Unvereinbarkeit des individualisierten Lebens mit der Gesellschaftlichkeit des Toten (siehe abstrakte Arbeit).
Soweit Medizin in der reinen Naturwissenschaft ihre Grundlagen begreifen will, gerät sie zwangsläufig in den Zirkel der natürlichen Vernunft der Aufklärung, in welcher sich Leben und Sterben aus dem Kreislauf der Natur von selbst erklärt (siehe Naturfetischismus). Hierdurch wird der Körper nur darin begriffen, was aus seiner Einzelheit davon hervorzukehren ist: Sein Kreislauf, sein Stoffwechsel, seine Assimilation, seine Regeneration und Selbsterzeugung. Wird natürliche Gesundheit zu einem Lebenswert für sich, so ist das Heilsprinzip zwangsläufig involviert. So kann Medizin selbst mörderisch werden, wenn sie diese aufsummierten Einzelheiten aus dem natürlichen Schein des Körpers erst zum Allgemeinwissen als Herrschaft über den Tod und schließlich zum Wissen eines toten Lebens wendet, zum Wissen des Reinen, des Heilen, der Gesundheit schlechthin: Dem Gesundsein sollen, dem Willen des Heils (siehe Rassentheorie). Da wundert auch nicht, dass viele Mediziner sich dem Faschismus der Nationalsozialisten in freudiger Erregung zugewandt hatten und bruchlos von ihrer naturhaften Lebensideologie in die Todesfakriken des Dritten Reichs gezogen sind, um am "unwerten Leben" die Erkenntnisse für das Lebenswertige zu gewinnen. Der Naturfetischismus der Medizin ist der Totengräber der Menschen, ihre "Blüten" sind das überwertige Leben, der blanke Zynismus gegen das Leben, dessen Wert sie dann herauszustellen und zu befördern hat (siehe Euthanasie).